Sonntag, 2. September 2007

Die Balkon-Mädchen. Über Arzu Tokers Hörspiel

Sozialpädagogische Islamkritik



Aus der Reihe: Arbeitsmaterialien

für Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen

Arzu Toker:

Die Balkon-Mädchen.

Anmerkungen zu einem Hörspiel
Ümmühan Karagözlü

im Gespräch mit Jacques Auvergne

Auvergne:

Mit dem politisch couragierten, moralisch aufrüttelnden und ästhetisch-technisch hervorragend gestalteten mehr als einstündigen Radio-Feature ’Die Balkon-Mädchen’, ausgestrahlt auf WDR4, hat in diesen Tagen Arzu Toker eine wegweisende Arbeit über Frauen und Migration geleistet.

Karagözlü:

Wir erinnern uns an Arzu Tokers nachhaltig starke Kopftuchkritik! Das war grandios, jenes sinngemäße: „Warum soll dann der Mann kein Kopftuch tragen? Wieso ist das Haar des Mannes nicht sexuell erregend – für die Frau?“ Einer der wichtigsten Texte in der Frühphase der nordrhein-westfälischen Kopftuchdiskussion.

Auvergne:

Nun erscheint sie als dezidierte Atheistin?

Karagözlü:

Dagegen wäre erst einmal nichts einzuwenden, die Demokratie lässt das gerne zu. Das ist ihre persönliche Auffassung, auf die sie ein im Grundgesetz verankertes Recht hat.

Auvergne:

Ich würde sogar sagen, dass eine der Wurzeln jeder Demokratie im Atheismus liegt. Von Giordano Bruno über Feuerbach, von Brecht bis zu Alice Schwarzer. Sogar der pantheistische Spinoza und der spirituell wetterwendische Heinrich Heine standen den Traditionslinien des europäischen Atheismus recht nahe. Mit der herrschenden Religion und gegen die herrschende Religion – zwischen diesen Polen spannte und spannt sich der Raum der Demokratie auf.

Karagözlü:

Nun, radikale Gesellschaftskritiker haben stets auch das Gottesbild radikal in Frage gestellt.

Arzu Tokers Aussage, dass Religion stets Privatsache sei, unterstütze ich voll und ganz. Ich persönlich bin keine Atheistin und erarbeite mir ein sehr persönliches Welt- und Gottesbild. Von der Religion oder Nichtreligion meiner kopftuchtragenden Hausnachbarin, meines kreationistisch evangelikalen Arbeitgebers oder meiner SPD‑Bürgermeisterin möchte ich verschont bleiben – das nennt die Demokratie ’negative Religionsfreiheit’, die aus Art.4 GG abzuleiten ist.

Auvergne:

Religion als Privatangelegenheit – das verneint alle Staatsreligion. Viele Territorien bzw. Nationen der Erde hatten oder haben Formen von Staatsreligion. Spanien unter Franco offiziell, die Türkei eher mit struktureller Gewalt, Malaysia und Nordnigeria arbeiten mit Überfällen und Vertreibungen, der patriarchale und feudale Staat Saudi‑Arabien als der so genannte Hüter der heilige Stätten glaubt alle nichtislamischen Symbole unter Strafe stellen zu müssen.

Karagözlü:

Ob in Arbeitswelt, Stadtpolitik oder Nachbarschaft: ’Mobbing, Bedrohung und Diskriminierung religiös anders Denkender’ gilt es in der kulturellen Moderne zu verhindern. Hier stimme ich atheistischen Intellektuellen wie Deschner oder Schmidt‑Salomon durchaus zu.

Betonen möchte ich aber, dass die Verfasssung und der durch sie garantierte Schutz nicht vor der Wohnungstüre endet. Damit möchte ich Arzu Toker sagen, die die patriarchalen Wagenburgen mit am besten kennt und ausgezeichnet kritisiert: Religion ist zwar Privatsache, doch selbst diejenigen, die sich beispielsweise freiwillig zu einem Religionswechsel in den Islam hinein entschieden haben, auch sie besitzen ein Recht auf Schutz. Der Staat muss sich in diesem Falle in die Privatsphäre einmischen.

Auvergne:

Und da siehst du Probleme, der Gruppendruck, das heilige Gefängnis Familie?

Karagözlü:

Ungefähr. Doch auch da lässt Toker die Opfer allein. Toker denkt meiner Ansicht nach nicht viktimologisch genug, sie hat etwas vom schnöden Just-World-Denken. Man verstehe mich nicht falsch: ich freue mich darüber, dass die jugendliche Arzu nicht von Vater oder Onkel getötet wurde. Toker kann ihre eigenen Ressourcen jedoch nicht voraussetzen.

Gerade mit Blick auf das im Feature erwähnte ’Frankfurter Scharia-Gerichtsurteil’, bei dem die nervlich überforderte deutsche Richterin sinngemäß sagte: “Sie hätten wissen müssen, dass marokkanische Ehemänner ihre Frauen nun mal prügeln dürfen“.

Das wissen auch viele europäische Frauen. Aber auch da gilt: Liebe macht blind. Der Geliebte wird sich schon als der Märchenprinz entpuppen, und sei er die einzige Ausnahme von ganz Marokko, der eine Engel unter 100 Patriarchen.

Auvergne:

Ja, die deutschen Mädchen denken leider zunehmend: ich bin nur Jane, wenn Tarzan mir eine knallt. Scharia hat in der pornographisierten Populärkultur … Sex‑Appeal.

Das verliebte künftige Bezness‑Opfer kennt die islamische Ehehölle noch nicht persönlich und in Europa war und ist solches anzusprechen ein Tabuthema. Die ländliche Muslima stellt keine Fragen und nichts in Frage, sie kennt aber auch erst gar keine kulturell moderne, emanzipierte Frau.

Karagözlü:

Ich würde sagen: die jeweilige Frau ist verliebt, und der honeymoon hüllt die jetzigen und künftigen Probleme in milchiges, nebelhaftes Licht, jedenfalls eine lange Zeit. Gewalt in der Ehe, allgemeiner: Gewalt in der Beziehung, das ist ein weltweites, von der jeweiligen Religion und Nationalität unabhängiges Problem, auch im Islam. Ein weltweites Problem.

Außerdem: im Gegensatz zu den Konvertitinnen mit kulturell modernem Sozialisationshintergrund sind die Töchter des traditionalistischen bzw. islamistischen Milieus nicht in der Lage, die Frage ’Warum’ zu stellen, Dinge anzuzweifeln, Neues auszuprobieren. Die meisten sind eingeschüchtert, unterworfen. Viele haben nicht einmal die Sprachkompetenz, geschweige denn die Lesekompetenz um sich zu informieren.

Auvergne:

Die deutschen Frauen – sie heiraten einen Muslim, einen Marokkaner oder Ägypter etwa. Sie können aber doch nicht wissen, was auf sie zukommt, nämlich, dass die Familie des Mannes ihnen die aus Deutschland gewohnte Lebensweise schlichtweg untersagt, nötigenfalls mit Prügel.

Karagözlü:

Die Frauen hätten sich informieren können! Es ist aber menschlich, Fehler zu machen, und: es muss möglich sein, Fehler zu revidieren, sich Hilfe zu holen, eine Ehe ohne Todesangst zu verlassen. Da dieses im Islam erschwert ist, müssen Fluchtpunkte her. Es muss zudem die Möglichkeit geben, polizeilichen Schutz bereit zu stellen.

Rechtsprechung wie im Falle der Frankfurter Richterin darf es nicht geben. Nach der Toker‑Logik aber müsste die Klägerin in dem genannten Prozess ohne Hoffnung und Hilfe bis zu ihrem Tode in der Ehehölle braten.

Hier ist für Europa ein gesellschaftliches Problem entstanden. Es geht nämlich auch um die Verankerung der patriarchalen Gewalt in so genannten heiligen Schriften. Die orientalische Geistlichkeit muss sich von der schriftlich fixierten Männergewalt gegen Frauen distanzieren. Das wird ihr schwer fallen, das wird ein Prozess sein, der Jahrzehnte dauern wird. Der Basis zwischen Senegal und Malaysia, 1,5 Milliarden Menschen immerhin, wird es womöglich noch schwerer fallen, weil sie keine Vergleichsmöglichkeiten haben.

Auvergne:

Die islamische Erziehung von Mädchen und Jungen muss sich radikal ändern. Abschied von der Gender-Apartheid.

Karagözlü:

Richtig, diese unnatürliche psychische und soziale Rollenspaltung, dieses brutale gesellschaftliche Determinieren der Geschlechterrollen muss ein Ende haben, um eine Befreiung der Frauen – und auch der Männer – und damit Lebensqualität schon hier auf Erden zu erreichen. Vorher wird die kulturelle Moderne für Muslimas und Muslime nicht zu betreten sein. Necla Keleks Thesen sind hier wegweisend, in: Die verlorenen Söhne. Plädoyer für die Befreiung des türkisch‑muslimischen Mannes sind sie durchdacht worden.

Auvergne:

Noch einmal zu den angesprochenen Konvertitinnen ohne bzw. auch mit interkultureller Bezness‑Liebesaffäre – oder vielmehr: ohne bzw. mit multikulturellem Bezness‑Missverständnis. Diese zumeist jungen Frauen also, Töchter relativ emanzipierter westeuropäischer Mütter, sie erkennen irgendwann, dass das islamische Religionsrecht oder vielmehr dessen Umsetzung im marokkanischen oder persischen Clan zum Gefängnis wird. Bis auf die fanatisierten Frauen natürlich, und bis auf die seelisch völlig unterworfenen, die mucken vielleicht nie mehr auf. Wieder andere werden gewaltsam weggesperrt, unter Drogen gesetzt, an der Kontaktaufnahme zur Herkunftsfamilie gehindert. Das ist entsetzlich, aber in vielen Fällen, wie wir beide wissen, leider wahr.

Karagözlü:

Und um eben diese Frauen geht es. Und Arzu Toker ist, vielleicht nur durch Zufall, keine von ihnen. Frau Toker genießt in der BRD Personenschutz, an Empathie aber scheint es ihr gründlich zu mangeln. Sie würde sich sicherlich gerne vor einem prügelnden Ehemann retten lassen, notfalls auch aus Marokko. Die Religion der Ehefrau bzw. die des prügelnden Mannes ist nie nur privat. Gewalt ist nie privat.

Es gilt abzuwägen zwischen Rechtsgütern. Das Rechtsgut der körperlichen Unversehrtheit, und das Recht auf Leben, auf Freiheit sind in der europäischen Rechtsauffassung schützenswerter als das Recht auf Religionsfreiheit. Das sieht auch das Grundgesetz auch so. Das Deutsche Volk bekennt sich ebenfalls zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten.

Arzu Toker – so sehr ich ihre Lebensleistung schätze, viktimologisch betrachtet lässt sie viele Frauen sehr allein. Frauen weltweit, denen die Chance auf Emanzipation und Partizipation vorenthalten worden ist und vorenthalten wird.

Auvergne:

Menschenrechte sind für Toker kein zentrales Thema.

Karagözlü:

Den Eindruck muss man leider haben. Das überwiegend so hervorragende Feature hat mich diesbezüglich in einigen wenigen aber wesentlichen Aussagen enttäuscht. Empfehlen möchte ich es gleichwohl.

Auvergne:

Ja, alle in Pädagogik und Politik Tätigen sollten sich das Hörspiel anhören! Werke wie dieses Radio‑Feature ’Die Balkon Mädchen’ von Arzu Toker müssten in jeder Fachschule für Erziehung, in jeder Fachhochschule für Sozialpädagogik auf dem Lehrplan stehen.

Karagözlü:

So sehr ich Arzu Toker zustimme, dass Religion Privatsache ist: Gewalt ist niemals privat. Über Gewalt muss gesprochen werden. Opferschutz hat Priorität – Gewalt muss staatlich verfolgt werden.

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