Mittwoch, 18. Juni 2008

Kinderrechte ins Grundgesetz

Nilüfer,

persisch-türkisch:

„Der Lotos, die Seerose“

Bericht aus unserem Leserkreis. Über den Alltag in Deutschlands Jugendämtern und die selbst verschuldete Unmündigkeit Sozialer Arbeit. Alle Namen wurden von der Redaktion des Blogs Schariagegner geändert

Es ist merkwürdig, wie fern ein Unglück ist, wenn es uns nicht selbst betrifft. John Steinbeck

Nilüfer

Marion Laurenburg: An einem Donnerstag im Januar, es war der letzte in den Weihnachtsferien, betraten mein Kollege und ich schon morgens um 8:30 das Gemeindezentrum einer der beiden deutschen Großkirchen und schlossen den Jugendraum auf. Wie in der unterrichtsfreien Zeit üblich, wollten wir uns mit einigen der von uns betreuten Kinder zum gemeinsamen Frühstück treffen, um anschließend zu einem der beliebten, erlebnisreichen Ausflüge zu starten. Ein Besuch in einem Naturkundemuseum stand diesmal auf dem Programm.

Gegen 10:30 zogen wir, 5 Kinder, mein Kollege und ich gut gelaunt und gesättigt, mit ausreichendem Proviant, den Fahrkarten, Handy und Notfallset ausgestattet, zur Bushaltestelle. Alles war gut organisiert, die öffentlichen Verkehrsmittel waren pünktlich, keinem wurde schlecht und wir kamen erwartungsvoll und guter Stimmung am Zielort an. Dort im ökologischen Erlebnisgarten hatten die acht- bis zehnjährigen SchülerInnen dann genügend Zeit und Gelegenheit, mit den eigens vorbereiteten physikalischen Versuchsanordnungen zu experimentieren, es gab die Gelegenheit mit Wasserexperimenten herumzumatschen, Hebelgesetze auszuprobieren, optische Täuschungen wurden präsentiert, besonders hat die Mädchen und Jungen beeindruckt, wie untrainiert und verkümmert ihre Sinneswahrnehmungen waren, vor allem beim Geruchs- und Geschmacksinn zeigte sich, typisch für Großstadtkinder, Entwicklungspotential. Die Kinder hatten an dieser ungewohnten Form des selbst gesteuerten, experimentellen Lernens viel Freude, die Veranstalter haben aber auch dafür gesorgt, dass genügend Raum für das Herumtoben, Lachen, Krakeelen, Essen und Trinken blieb.

Nach einigen Stunden saßen wir dann auch nach einem spannenden, lehrreichen und spaßigen Ausflug glücklich und zufrieden, jedoch ziemlich erschöpft im Bus und freuten uns, bald wieder zu Hause zu sein. Wir kamen auch pünktlich an der Zielhaltestelle an. Auf dem kurzen Fußweg zum Gemeindezentrum, wo wir unseren Ausflug ausklingen lassen wollten, kamen wir an einer Döner-Grillstube vorbei. Nilüfer Yilmaz, ein zehnjähriges türkisches Mädchen aus unserer Gruppe, sah durch das große Fenster des Ladens und bat mich, schnell hineinzuspringen zu dürfen, um einen der Mitarbeiter dort zu begrüßen. „Das ist mein Onkel, äääh, nicht Onkel, äääh, ich weiß nicht mehr wie das auf Deutsch heißt.“ Ich hatte Nilüfer und auch den Rest der Familie schon öfter dort essen sehen, manchmal sprach man im Vorbeigehen miteinander. Es schienen also Freunde oder sogar Verwandte der Familie zu sein, die dort arbeiteten. Ich sagte darum zu und versprach, mit den anderen draußen zu warten.

Es waren keine anderen Gäste da, niemand versperrte mir das Blickfeld und so konnte ich im Hauseingang durch das Fenster bis in den hintersten Winkel der Imbissstube sehen, wo ein kräftiger, nicht sehr großer Südländer, der deutlich älter als das Mädchen war, etwa 35 - 40 Jahre alt, die Schülerin begrüßte. Als ich beobachtete, wie der Mann die Zehnjährige viel zu innig und intim umarmte, ihr dabei über den Rücken streichelte, Nilüfer jedoch stocksteif die bemerkenswert einseitigen Zärtlichkeiten über sich ergehen ließ, wurde ich misstrauisch und unruhig. Ich weiß noch, dass ich laut fragte: „Was geht denn da ab? Was ist da los?“, weil man derart erotisch seine wesentlich jüngere Verwandte oder die Kinder der Nachbarn oder der Freunde nicht begrüßt.

Bevor mein Kollege sehen konnte, was mich so beunruhigte, ließ der Mann die Schülerin auch wieder los. Um mir einen genaueren Eindruck zu verschaffen, betrat ich, ohne Rücksprache mit meinem Kollegen zu halten, der mit der Beaufsichtigung der anderen vier Kinder beschäftigt war, den Laden. Wahrscheinlich war mir meine Empörung anzusehen, denn kaum dass ich die Imbissstube betreten hatte, drängte ein weiterer Mitarbeiter des Ladens sich zwischen das Mädchen und mich. Dabei hatte er ein scharfes Dönermesser, mit dem er gerade noch Fleisch geschnitten hatte, in der Hand .und streckte den Arm seitlich weit aus, einem Schlagbaum an einem alten Grenzübergang nicht unähnlich. Diese unmissverständliche Geste, unterstrichen durch seinen hasserfüllten Blick, waren eindeutig, ich sollte es nicht wagen einen Schritt näher zu kommen. Um das Mädchen nicht zu gefährden und dem Kind eine Chance zu geben, möglichst unkompliziert und sicher aus der Situation herauszukommen, fragte ich Nilüfer, ob sie mit uns zum Gemeindezentrum kommen oder lieber bleiben wolle. Sie sagte, sie wolle bleiben. So verließ ich den Dönerverkauf, um mit den anderen ins Gemeindezentrum zurückzukehren und die Gruppe zu verabschieden. Anschließend besprach ich mit meinem Kollegen die Erlebnisse im Schnellrestaurant und klärte das weitere Vorgehen ab.

Josef Eppelmann: Auch meine Kollegin war der Ansicht, dass wir zumindest in Betracht ziehen mussten, dass hier von einem seit längerem andauernden sexuellen Missbrauch auszugehen sei, der vielleicht sogar den Eltern Yilmaz bekannt war. Da wir keine ausreichenden Beweise für das Vorliegen einer solchen Straftat hatten, beschlossen meine Kollegin und ich, weder die Eltern noch die Behörden zu informieren. Wir wollten das Kind weiter beobachten und Kontakt zu Fachleuten einer Beratungsstelle gegen sexuellen Missbrauch von Kindern aufnehmen und dort um Unterstützung bitten. Das veranlassten wir auch umgehend. Nochmals unseren Dank für die kompetente, einfühlsame Begleitung und Beratung, die uns bis heute von großem professionellem und persönlichem Nutzen ist.

Nilüfer war das mittlere von drei Kindern der Familie Yilmaz und würde bald elf Jahre alt werden. Sie besuchte die letzte Klasse einer kleinen deutschen Grundschule. Einige der SchülerInnen dort nutzten in den nahe gelegenen Gemeinderäumen ein Förderangebot mit Mittagessen, Hausaufgabenbetreuung, Nachhilfe und Freispiel, das durchaus multikulturell besetzt war. Auch Nilüfers zwölfeinhalbjähriger Bruder Serkan, in der Erprobungsstufe der Realschule, kam wie sie selbst eine zeitlang 3-4 mal wöchentlich ins Gemeindezentrum, bis er, abwechselnd mit seiner zweiten Schwester Serpil, dem fünfjährigen Nesthäkchen der Yilmaz, gute drei Monate lang von meiner berufserfahrenen Kollegin Einzelunterricht bekam. Zweimal wöchentlich und für jeweils drei Stunden war sie in dieser Zeit Gast bei der Familie, wir kannten die Lebensverhältnisse also recht gut. Es handelte sich bei den Yilmaz nicht unbedingt um eine streng gläubige, aber sehr traditionelle und bildungsferne Familie, es gab außer dem Koran und den Schulbüchern der Kinder keinen Lesestoff, nicht einmal eine Fernsehzeitung lag auf dem Couchtisch.

Das Tochter-Eltern-Verhältnis, auch das der übrigen Kinder, war von Respekt und Angst vor Strafe geprägt. Einmal konnte meine Kollegin, die im gleichen Raum war, nicht verhindern, dass Nilüfer von der Mutter wegen einer Nichtigkeit eine knallende Ohrfeige bekam, so dass die Finger im Gesicht minutenlang abgemalt waren. Dem Kind standen die Tränen in den Augen, doch sie wagte nicht zu weinen.

Ein paar Wochen später erschien das Mädchen mit einem zu einem Dreieck gefalteten klitzekleinen und mohnroten Nickituch auf der Straße, das am Hinterkopf zusammen gebunden wurde und reichlich albern aussah, jedoch die hübschen dunkelbraunen und schulterlangen Haare rücklings noch weit herausschauen ließ. Das war ihre Art mit der mütterlichen Anweisung umzugehen, künftig außerhalb des Hauses ein Kopftuch zu tragen.

Laurenburg: Kurz nach dem Jahreswechsel aber war das Haar der Zehnjährigen immer ganz bedeckt. Den Gruppenregeln entsprechend, zog sie beim Betreten des Jugendraums das Kopftuch aus, um es beim Verlassen wieder umzubinden. Weil sie das des Öfteren vergaß, gab es dann zu Hause Ärger. Wie es in ähnlich patriarchalisch strukturierten Milieus üblich ist, hatte die Grundschülerin kein eigenes Taschengeld. Für jedes Kaugummi, jedes Heft, jeden Bleistift musste sie ihren Bruder um Erlaubnis fragen. Ein zwölfjähriger Bengel, der die Macht hatte zu entscheiden, ob er dem Bitten seiner zwei Jahre jüngeren Schwester gnädig nachgibt oder ihr despotisch verbietet etwas zu kaufen, man stelle sich vor, wie das den Charakter des heranwachsenden Machos prägt.

Zuhause war das Mädchen es gewohnt, hinter ihrem Bruder herzuräumen. So musste sie beispielsweise den Platz, an dem Serkan saß und den er nie ordentlich verließ, abwischen, Kleidung, die er überall verstreute, musste sie in den Schrank räumen. Wenn die Geschwister gemeinsam nach der Schule nach hause gingen, trug die Zehnjährige seinen Schulranzen zusätzlich zu dem ihren. Sie trug dann halt zwei Tornister, der einen Kopf größere Bruder hatte die Hände frei. Bereits mit zehn Jahren musste das Mädchen neben den Hausaufgaben Mutter Yilmaz im Haushalt helfen und oft auf die jüngere Schwester aufpassen. Während ihr Bruder seine freie Zeit einteilte, wie es ihm gefiel, er sich verabredete mit wem er wollte, stand das seiner Schwester nicht zu. Wie Frau Karagözlü bestätigen wird, ist das in traditionellen türkischen Familien keine Seltenheit.

Wie gewohnt kam Nilüfer Yilmaz drei bis vier mal in der Woche zur Lernförderung, auch an dem Freizeitangebot für Mädchen hatte sie viel Freude. Verschiedentlich fiel uns während des Nachhilfeunterrichts beim Wiederholen des Lernstoffs die nicht altersgemäße Umgangsweise und Ausdrucksweise in Zusammenhang mit Lehrinhalten des Aufklärungsunterrichts auf. Während sich die etwa gleichaltrigen anderen SchülerInnen verlegen kichernd und herumdrucksend mit dem Thema auseinandersetzten, meinte Nilüfer kalt: „Ich weiß wie ein Penis aussieht.“ Manchmal erwähnte sie wie beiläufig, dass sie in dieser Nacht bei ihrer Tante Nilgün, Frau Yilmaz Schwägerin übernachten würde, auf meine Nachfrage, ob sie sich darauf freue, wich sie mir immer aus oder wechselte das Thema. Bald bemerkten wir, wie das Mädchen zunehmend stiller wurde, kaum noch redete, auch nicht mit den anderen Kindern. Anfang März beobachteten wir, dass Nilüfer Aksen, eine ein Jahr jüngere türkische Schulkameradin aus der Gruppe, Tochter eines Imams, zur Seite zog und ihr zuraunte, dass sie ihr ein Geheimnis verraten müsse.

Während Nilüfer im Allgemeinen weiterhin sehr still war und den anderen Kindern und uns auswich, hielten die beiden Mädchen jetzt engen Kontakt. Ständig hatten sie in den Pausen oder auf dem Weg nach Hause geheimnisvoll zu tuscheln. Irgendetwas Besonderes schien bevorzustehen, worauf sich Nilüfer zu freuen schien. Da die beiden türkisch sprachen, verstanden wir kein Wort. Als ich nachfragte, was denn los sei, dass sie so aufregt sei, erzählte sie, dass in ihrer Familie ein großes, fünftägiges Fest kurz bevor stehe. „Ich weiß nicht wie das auf Deutsch heißt, ich trage dann ein wunderschönes Kleid. Es gibt leckeres Essen, wir feiern und es kommen meine Großeltern, auch Verwandte aus der Türkei.“

Ich wunderte mich, dass Nilüfer weiterhin samstags zur Mädchengruppe kam, obwohl sie sich für eine Sport AG in der Schule angemeldet und mehrmals mitgeteilt hatte, dass sie bald nicht mehr kommen würde. Offensichtlich gefiel es ihr besser, zu basteln und zu klönen als beim Training zu schwitzen. Natürlich freute ich mich darüber, zumal ich hoffte, beim ungezwungenem Spielen und Spaßhaben eher das Vertrauen des für ihr Alter viel zu nachdenklich, ernst und traurig wirkenden Mädchens zu gewinnen. Das gelang mir jedoch nicht in dem gewünschten Maße. Dann begann Aksen unbegründet immer seltener zu erscheinen. Auf Anfrage meinte sie verlegen „Ich übe jetzt mit meinem großen Bruder“. Der Bruder aber, das wussten wir alle, würde sich nie mit seiner kleinen Schwester abgeben. Das wäre unter seiner Würde gewesen. Dann verabschiedete sich Aksen endgültig aus der Gruppe. Darüber war Nilüfer sehr traurig, sie zog sich noch mehr zurück und begann sich auch körperlich zu verändern.

Die Schülerin entwickelte einen sehr großen Appetit und stopfte wahllos Lebensmittel und Süßigkeiten in sich hinein, nie verzichtete sie, wenn sie von den anderen Gruppenmitgliedern Schokoriegel oder ähnliches Zuckergebäck angeboten bekam. Oft gab es deswegen mit dem Bruder Ärger, der sie wegen ihrer Esslust hänselte. Serkan hatte auf sein blechernes Federmäppchen mehrfach „şişlik“ geschrieben, was etwa „Anschwellung, Geschwulst, Schwellung“ bedeuten kann. Nilüfer wurde zunehmend trauriger, sonderte sich von den anderen mehr und mehr ab, wenn sie auch immer wieder meine Nähe suchte, war sie meistens sehr allein. Das Mädchen wurde rundlicher. Manchmal wurde ihr schlecht. Na klar, so was kommt von so was, dachte ich und bat das Kind wenigstens, nicht soviel Süßigkeiten zu essen.

Eines warmen Frühlingsnachmittags stand Nilüfer schon vor der Eingangstür des Gemeindezentrums und wartete auf uns. Mir fiel an diesem wunderschönen Tag besonders auf, wie still und bedrückt sie auf der Mauer saß. Früher wäre sie uns entgegengelaufen und hätte laut gerufen: „Ich bin die Erste, ich bin die Schnellste.“ An diesem Dienstag reichte es nur für ein gleichgültiges „Hallo.“ Als ich das zehnjährige Mädchen, das nun vor der Haustüre stand, von der Seite kommend ansah, glaubte ich meinen Augen nicht zu trauen. Wie eine kleine Kugel wölbte sich ihr Bauch vor. Ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen.

Eppelmann: Wir schlossen auf und gingen hinein. Das Mädchen folgte uns mit hängenden Schultern, gesenktem Kopf, setzte sich an ihren Platz und begann mit ihren Hausaufgaben. Wieder fiel uns auf, dass die Schülerin, wie in letzter Zeit immer wieder, dafür sorgte, allein am Tisch zu sitzen. War das nicht möglich, ließ sie nur Mädchen neben sich sitzen und platzierte die Schultasche zwischen sich und die Nachbarschülerinnen. Darauf von meiner Kollegin angesprochen, meinte die Zehnjährige: „Ich kann mich dann besser konzentrieren.“ Auffällig, wie die Schülerin sich von den anderen Kindern absonderte. Einmal war es dann einem etwa gleichaltrigen Jungen doch gelungen, sie zu einem Tischtennisspiel zu überreden, da habe ich die Zehnjährige nach langem wieder lachen hören. Es war erschütternd, wie das Kind sich veränderte.

Laurenburg: Wenn Nilüfer früher in den Pausen im ganzen Haus, in dem sie sich gut auskannte, überall herum sprang, ging sie jetzt nicht einen Schritt ohne Begleitung. Sogar zur Toilette wollte sie nicht allein gehen, ich musste ihr dann versprechen, vor der Türe zu warten, bis sie herauskam. Wenig später bat ich Nilüfer nach dem Unterricht noch zu bleiben. Ich erklärte ihr unter vier Augen, dass mir aufgefallen sei, wie sie sich in kurzer Zeit verändert habe und fragte sie, ob sie sich krank fühle. Sie schüttelte den Kopf und meinte, es ginge ihr gut. Da die Schülerin mir dabei mit den Blicken auswich, fragte ich, ob es zu hause ein Problem gäbe. Sie schüttelte nur traurig den Kopf. Meine nächste Frage war, ob denn etwas in der Schule passiert sei. Da begann sie zu weinen und erzählte mir, dass Aksen, die Tochter des Imams, mit der sie im Gemeindezentrum und wohl auch in den Schulpausen sehr oft zusammen gewesen war, nicht mehr mit ihr reden und spielen wolle und sogar anderen muslimischen Mädchen verboten habe, sich mit Nilüfer zu unterhalten und oder zu beschäftigen.

Sie berichtete, dass Aksen sich so ekelhaft benehme seit sie nicht mehr zur Nachhilfegruppe ins Gemeindezentrum kam. Da es an dieser Grundschule, wie an vielen anderen auch, leider üblich ist, dass muslimische Kinder den deutschen MitschülerInnen außerhalb der Unterrichtsveranstaltungen aus dem Weg gehen, blieb Aksens ehemalige beste Freundin in den Pausen und auf dem Weg zur Schule immer allein. Eine Begründung habe die Tochter des Imams nicht geben wollen oder können. Die Klassenlehrerin habe Nilüfer auch schon um Hilfe gebeten, die habe sie aber ohne sie anzuhören mit der Begründung weggeschickt, sie habe im Moment keine Zeit. Später habe die Schülerin nicht mehr gewagt die Lehrerin anzusprechen. Ich versuchte die Zehnjährige zu trösten, bestätigte ihr, dass Aksen sich sehr gemein verhalten und mich auch enttäuscht habe und bot ihr an, in dem Streit zu vermitteln. Nilüfer nahm mein Angebot dankend an.

Eppelmann: In diesen Tagen sprach mich meine Kollegin an: „Sag mal, fällt dir was an dem Mädchen auf?“ Auch ich hatte bemerkt, dass Nilüfer einen merkwürdig spitz nach vorne gewölbten Bauch hatte und in der seitlichen Silhouette recht schwanger aussah. Was wir natürlich tagelang nicht fassen wollten. Gemeinsam mit der Beratungsstelle erarbeiteten wir ein Konzept, um Nilüfer zu helfen. Es war bereits Mitte April und der Bauch des Mädchens wurde immer dicker. Meine Kollegin sprach unabhängig voneinander zwei im Gemeindehaus tätige Frauen an, die das Mädchen gut kannten. Als erstes die Gärtnerin: „Hast du dir Nilüfer schon mal von der Seite angeschaut?“, auch diese antwortete: „Das Kind ist schwanger. Ist es schon vierzehn oder erst dreizehn?“ „Nein, Nilüfer ist zehn!“ „Das gibt es nicht. Ja, das Kind ist schwanger, ich als Großmutter kann das beurteilen. Die Art wie sie geht, wie sie sich bückt, wie sie den Bauch schützt, sie bewegt sich wie eine Schwangere, das ist anthropologisch, das tun werdende Mütter auf der ganzen Welt so, solche Mädchen kenne ich aus meiner Zeit in Brasilien. Weiß der Pastor schon Bescheid?“

Eine zweite im Gemeindezentrum beschäftigte Mittfünfzigerin, Frohnatur, selbst Mutter von vier Kindern und Oma von drei Enkelkindern, wurde von der Nachhilfelehrerin, die auch Mutter ist, mit einem „Kommst du mal eben mit runter?“ unter einem Vorwand in den Jugendraum begleitet, wo sie sich einige Minuten lang im mit fünf Kindern bevölkerten Zimmer aufhielt, darunter auch Nilüfer. Die Kinder hatten gerade Pause. Sie plauderte wie üblich unterhaltsam über das Wetter und über ihre Enkelkinder und verließ den Raum kurze Zeit darauf. Etwa zwei Stunden später trafen sich die Erwachsenen auf der Terrasse. Diese zweite Mitarbeiterin der Gemeinde sprach die Nachhilfelehrerin direkt an: „Ich weiß, warum du mich wirklich herunter gelockt hast. Die ist schwanger, ne?“ „Ja. Im vierten Schuljahr!“ „Ist sie mehrmals sitzengeblieben? Hat sie mehrfach wiederholt?“ „Nein. Das Mädchen ist zehn Jahre alt.“ „Das kann doch wohl nicht wahr sein. Und was machst du jetzt?“ „Ich werde das Jugendamt einschalten. Und den Pastor informieren. Das wird diesmal kein angenehmes Gespräch, aber da muss ich wohl durch.“

Noch zum Pastor. Drei Frauen, die als Mütter oder sogar Großmütter eine Glaubwürdigkeit haben, die eigene Körpererfahrung und Lebenserfahrung auf ein knapp elfjähriges Mädchen zu beziehen, hielten Nilüfer über Wochen hinweg für schwanger. Leider waren zwei dieser Mitwisserinnen, die das Kind persönlich kannten und über zehn Wochen besorgt die körperliche Veränderung des Mädchens registrierten, gewissermaßen beim Pastor angestellt, jedenfalls bei der Kirche in Diensten. Diese beiden nahm sich Hochwürden besonders „seelsorgerlich“ vor und verpflichtete sie durch eine Dienstanweisung, über den Fall nie mehr zu sprechen, das heißt, künftig nicht mehr zu sagen, das Mädchen sei persönlich als schwanger eingeschätzt worden.

„Ich habe den beiden die dienstliche Anweisung gegeben, über den Fall Nilüfer nicht mehr zu reden, mit niemanden“, so der Pastor telefonisch zu uns. Dieses Vorgehen könnte man als Beeinflussung von Zeugen beschreiben. Die beiden Frauen waren und sind von dem Pastor existenziell abhängig. Hochwürden drängte mithin zwei Frauen zu verschweigen jemals ein schwangeres Kind gesehen zu haben. Wir haben damit zwei Ansprechpartnerinnen weniger, die beiden Frauen jedenfalls haben wir bis heute nicht mehr auf den Sachverhalt angesprochen. Einmal im Quartal sieht man sich, dem Thema Nilüfer weichen wir jedoch alle aus.

Laurenburg: Auch in den folgenden Wochen war der Geistliche eifrig bemüht, jegliche Spuren, die auf einen Bezug des Mädchens zum Gemeindezentrum hätten hinweisen können, zu verwischen. Mehrfach lief er zwischen Jugendamt, Kirche und Grundschule hin und her, um begierig alle die Informationen aufzunehmen und weiter zu geben, die halfen, das Gemeindezentrum ins rechte Licht zu rücken. Dabei scheute er nicht davor zurück, das zehnjährige Opfer als notorische Lügnerin darzustellen, weil er „aus verlässlicher Quelle“ gehört habe, dass die Schülerin öfter flunkert. Eine in dieser Entwicklungsphase selbst unter unproblematischen Lebensumständen gar nicht so seltene Verhaltensweise.

Eppelmann: Die anderen Grundschülerinnen und Grundschüler merkten, altersgemäß naiv und verträumt, glücklicherweise absolut gar nichts, Schwangerschaft eines Kindes ist für sie offensichtlich und Gott sei Dank nicht Teil ihrer Lebenswelt. Eine vierzehnjährige Jugendliche jedoch sprach meine Kollegin an: „Sag mal, ist die Nilüfer schwanger, die sieht aus wie meine Mutter, als mein Bruder unterwegs war?“ „Das scheint so zu sein, auch mir ist der Bauch aufgefallen.“ „Die ist doch viel zu jung. Was machst du jetzt, wie wird es mit ihr weitergehen?“ „Ich werde das Jugendamt einschalten müssen. Bitte sprich mit niemandem aus der Kindergruppe darüber.“ „Ok, klar.“

Laurenburg: An einem Samstag, die Mädchengruppenstunde war beendet, es war alles aufgeräumt und gespült und die Kinder wollten nach Hause gehen, kam eines der Mädchen auf eine dumme Idee. Sie wollte sich über Nilüfers Ängstlichkeit lustig machen und meinte aufgeregt: „Da in der Ecke steht ein Mann.“ Im nächsten Moment starrte Nilüfer mich mit weit aufgerissenen Augen und Mund an, kreidebleich, nicht fähig sich zu rühren oder einen Ton von sich zu geben. Nur weil ich den Arm um sie legte und ihr versicherte, dass die Türe abgeschlossen war und es doch niemandem möglich ist durch die verschlossene Tür zu gehen, gelang es mir das Mädchen zu beruhigen.

Weitere Tage vergingen. Nilüfers Bauch wurde immer dicker. Wildfremde Leute auf der Straße blieben stehen und guckten uns hinterher, wenn wir mit dem Mädchen über den Marktplatz gingen. Das Kind zeigte inzwischen verwahrloste Züge, fleckige Kleidung, oft kam sie schon viel zu früh zur Gruppenstunde oder zur Nachhilfe, obwohl sie damit rechnen musste, dass die Eingangstür abgeschlossen war. Wenn die Gärtnerin gerade da war durfte die Schülerin ihr helfen.

Nilüfers Klassenlehrerin konnte die Verhaltensänderung und den zunehmend dickeren Spitzbauch der Viertklässlerin nicht übersehen haben. Die Pädagogin, deren Aufgabe es eigentlich sein sollte, ihren SchülerInnen Ansprechpartnerin und Beraterin in den vier Jahren einer sehr wichtigen Lebensphase zu sein, die prägend für die Einstellung zum lebenslangen Lernen ist und auch die individuelle Persönlichkeitsentwicklung beeinflusst, sprach weder mit dem Mädchen noch mit dessen Eltern. Sie stand kurz vor ihrer Pensionierung, nach diesem vierten Schuljahr würde sie keine eigene Klasse mehr übernehmen und sich auf den wohlverdienten Ruhestand vorbereiten. Jetzt, kurz vor dem Ende ihrer beruflichen Karriere, wollte sie keinen Skandal. Sie wird die Sommerferien sehnlichst herbeigewünscht haben. Dann wäre sie das Problem los gewesen, da Nilüfer im nächsten Schuljahr eine weiterführende Schule besuchen würde. Übrigens hätte ihr eigentlich auffallen müssen, dass die Schülerin am Stichtag an keiner solchen Bildungseinrichtung in der näheren Umgebung angemeldet war. Ihr ist es als Einzelperson gelungen, das übrige Kollegium der Grundschule, dass uns größtenteils nicht einmal persönlich kannte, genau wie den Pastor davon zu überzeugen, der Familie sei durch unser „unprofessionelles“ Vorgehen schwerstes Unrecht zugefügt worden. Hauptvorwurf war, vor dem Einschalten der Behörden die Familie nicht zu dem Sachverhalt gehört zu haben. Genau das aber hielt nicht nur der Polizist für gefährlich und einer erfolgreichen Klärung der Sachverhalte im Sinne des Kindeswohls für hinderlich.

Eppelmann: Wahrscheinlich war die Klassenlehrerin völlig überfordert. Welcher Kollegin hätte sie sich anvertrauen können? So etwas, Kindesmissbrauch und mutmaßliche Schwangerschaft einer Zehnjährigen ist an deutschen Schulen einfach nicht vorgesehen, das kommt nicht vor. Sicherlich hätte sie sich an eine einschlägige Beratungsstelle wenden können, doch dazu fehlte ihr wohl der Mut. Aufschlussreich, dass Deutschlands angeblich so qualifizierte Pädagoginnen angesichts des auch hierzulande praktizierten muslimischen Traditionalismus mit seinen Verhaltensweisen aus der kulturellen Vormoderne ganz offensichtlich nicht mehr handlungsfähig sind. An eine urdeutsche Familie hätte man sich wahrscheinlich heran getraut, auch an eine italienische oder spanische. Bei den muslimischen MigrantInnen oder bei Roma-Clans jedoch wechseln deutsche Behörden panisch die Blickrichtung wenn es um bronzezeitliche Bräuche wie Kinderverlobung und Kinderheirat[1] geht. Wie viele Mädchen wie Ghulam[2] wird es in Europas Parallelgesellschaften geben? Auch das ist eine Form der Diskriminierung, auch diese Kinder haben Menschenrechte.

Laurenburg: Eines Tages kam Nilüfer besonders niedergeschlagen in die Mädchengruppe. Als ich hörte, wie sie zu einer Schülerin sagte, dass sie sich aus dem Fenster stürzen wolle, übertrug ich meiner Vertreterin die Gruppenleitung und zog das Mädchen aus der Gruppe, um in einem anderen Raum unter vier Augen mit ihr zu reden. Ich sagte ihr, dass man, wenn man aus dem Fenster springt, sich sehr schmerzhaft, folgenschwer oder sogar tödlich verletzen kann und schon sehr traurig und verzweifelt sein muss, um das Risiko einzugehen, sich beim Sturz andauernde Schäden zuzufügen oder gar umzubringen. Ob sie mir nicht sagen wolle, was sie bedrückt, damit wir gemeinsam eine andere Lösung finden. Da begann sie zu weinen, und sagte, dass sie bald nicht mehr kommen werde, auch nicht zur Hausaufgabenbetreuung und darüber traurig sei. Ich versuchte sie damit zu trösten, dass wir sie dann vermissen würden, dass sie uns jeder Zeit besuchen könne und sie uns auch bei zufälligen Begegnungen ansprechen dürfe. Für alle Fälle hätte sie ja auch meine Telefonnummer. Auf meine Frage, ob noch andere Dinge sie bedrücken, schwieg sie. Ich versicherte ihr, dass ich verstanden hätte, dass es manchmal sein kann, dass einem das Herz schwer ist, aber man darüber in dem Moment nicht sprechen kann. Sie könne mich jederzeit ansprechen, wenn ihr danach sei, zu reden. Wir gingen dann zurück in die Gruppe und setzten unsere Töpferarbeiten fort. Nilüfer formte aus Ton einen Pilz, eine Schlange und ein Herz, in dem die Initialen ihres Namens eingeritzt waren.

Als die Schülerin etwa eine Woche später mit einer wenn auch nicht sehr tiefen Schnittwunde am Handgelenk erschien, beschlossen wir das Jugendamt einzuschalten. Die KollegInnen hatten jedoch Feierabend, eine Rufnummer für Notfälle außerhalb der Dienstzeiten gab es nicht. Daher riefen wir bei der Polizei an. Der Beamte an der Zentrale des Polizeipräsidiums vermittelte uns an die zuständige Dienststelle. Der berufserfahrene Hauptkommissar, selber Vater, nahm den geschilderten Sachverhalt auf und riet uns dringend, nichts mehr in dieser Angelegenheit zu unternehmen, um uns und das Kind nicht zu gefährden. Er teilte uns mit, dass von dem Verdacht des Kindesmissbrauchs auszugehen sei, den die Eltern zumindest dulden. Wenn die auch nur eine schwache Ahnung hätten, dass gegen sie ermittelt wird, würde Nilüfer auf Nimmerwiedersehen in der Türkei verschwinden und deutsche Behörden hätten keine Möglichkeiten einzugreifen und das Kind zu schützen. In den nächsten Tagen würde ein Beamter uns zu dem Sachverhalt vernehmen und das Jugendamt würde sich bei uns melden. Das geschah denn auch.

Zuerst meldete sich die Polizei und bestellte mich zwei Tage später aufs Präsidium. Auch das Jugendamt vereinbarte noch in der gleichen Woche einen Termin mit meinem Kollegen und mir. Die Kollegin im Jugendamt führte das Gespräch mit maschineller Routine. Im Wesentlichen ließ sie uns schildern was wir beobachtet hatten, stellte wenige Fragen und hielt das Gehörte schriftlich fest. Zum Schluss ermahnte sie uns dringend, uns fortan in der Angelegenheit absolut zurückzuhalten, sie würde alles Notwendige selbst in die Hand nehmen. Nach dem Gespräch fühlten wir uns zwar wie gerädert, waren aber auch erleichtert, eine weitere kompetente Mitstreiterin gefunden zu haben. Das sollte sich jedoch als absoluter Irrtum herausstellen.

Eppelmann: Für uns waren diese Wochen im Mai und Juni fast unerträglich, doch hielten wir uns an den dringenden Rat des Polizeibeamten und verrichteten Business as usual. Ohne die Unterstützung der Beratungsstelle gegen sexuellen Missbrauch wäre uns das nicht gelungen. Nilüfer kam zunächst weiterhin dreimal in der Woche zur Hausaufgabenbetreuung und samstags auch in die Mädchengruppe. Das Ende des Schuljahrs und die Sommerferien rückten näher. Die Kinder freuten sich auf den Urlaub, nur das zehnjährige türkische Mädchen nicht. Sie meinte einmal zu mir, dass sie sogar lieber täglich ins Gemeindezentrum kommen, Hausaufgaben machen und für Klassenarbeiten üben würde, als mit ihren Eltern in die Türkei zu fahren.

Im Gespräch mit den anderen Kindern, die wissen wollten, welche Schule Nilüfer denn im nächsten Schuljahr besuchen würde, stellte sich eines Tages heraus, dass die Eltern die Zehnjährige offensichtlich bei keiner Schule angemeldet hatten. Die Schülerin war auch nicht wie die anderen bei den diversen Informationsveranstaltungen gewesen, um sich mit ihrer Mutter einige Schulen anzusehen oder sich gar bei einer bestimmten anzumelden. Die Zehnjährige meinte auf meine erstaunte Frage, dass sie auch keinen Bescheid einer Schule bekommen habe, der sie als künftige Schülerin begrüßt. Die Mutter habe auf ihre Frage gesagt, sie solle sich keine Sorgen machen, es sei alles in Ordnung.

Da das Prozedere des in Deutschland üblichen Schulwechsels den Yilmaz durch ihren Sohn Serkan bekannt sein musste, ihr Sohn besuchte bereits die 6. Klasse in der Realschule, machte diese Nachricht meine Kollegin und mich stutzig. Für die fast Elfjährige bestand doch Schulpflicht. Sollte Nilüfer nicht in Deutschland bleiben, drohte dem Kind der unfreiwillige Umzug in die Türkei? Wir beschlossen, Anfang der Woche beim Jugendamt vorzusprechen, einmal um diese Information an die Sozialpädagogin weiterzugeben, aber auch um uns nach dem Sachstand zu erkundigen. Was wir damals nicht wussten, das dies Nilüfers letzter Tag in der Gruppe sein würde. Sie sollte nicht einmal mehr die Gelegenheit bekommen, sich von den anderen SchülerInnen zu verabschieden.

Laurenburg: An dem Morgen, an dem ich in der Sprechstunde der Sozialpädagogin beim Jugendamt vorsprechen wollte, begegnete mir Nilüfer auf dem Weg zur Schule, sie war bereits einige Minuten zu spät. Trotzdem beeilte sie sich nicht, sondern schlich mit gesenktem Kopf und hängenden Schultern wie ein geprügelter Hund in Richtung Schule. Sie hatte mich nicht gesehen und war daher einigermaßen überrascht als ich sie ansprach. Ich fragte sie, wo sie denn in den letzten Tagen gewesen sei. Sie begann verzweifelt zu weinen und teilte mir mit, nicht mehr kommen zu dürfen. Sie drückte mich noch einmal und rannte dann weinend zur Schule.

Die Sachbearbeiterin beim Jugendamt war angeblich gerade auf dem Weg zu einem Außentermin und räumte mir („Sie haben zwei Minuten!“) trotz regulärer Sprechzeit mit eisigem Blick nur einen ganz kurzen Wortwechsel ein. Ins Zimmer bat sie mich nicht. Nun ja, dann eben auf der Treppe. „Wie geht es Nilüfer, wissen Sie etwas Neues?“ „Dem Kind geht es gut Ich habe mit den Eltern gesprochen. Dabei musste ich ihnen sagen, wer den ungeheuerlichen Verdacht in die Welt gebracht hat. Sie brauchen sich also nicht zu wundern, wenn sich die Familie zurückzieht und den Kontakt abbricht. Die Mutter war entsetzt und tief enttäuscht, wie Sie, die Sie ja in der Familie aufgenommen worden seien wie eine liebe Verwandte, so etwas überhaupt denken können! Auch die Klassenlehrerin hält ihre Reaktion auch für total überzogen.“ – „Wissen Sie, dass Nilüfer noch nicht auf einer weiterführenden Schule angemeldet ist?“, wollte ich wissen. Diese Frage überhörte die Sachbearbeiterin. Ich fragte: „Ist das Mädchen schwanger?“ – „Sie war beim Arzt. Das ist alles, was ich Ihnen dazu sage. Halten Sie sich jetzt raus.“ Damit war das Gespräch für die Beamtin beendet. Die Diplom-Sozialpädagogin machte auf dem Absatz kehrt, ließ mich grußlos auf dem Treppenabsatz stehen und verschwand nach draußen. Ich war wie vom Donner gerührt. So viel Kaltschnäuzigkeit ist mir im Leben selten begegnet.

Eppelmann: Die Arbeitswelt deutscher Jugendämter bezeichnet derartige Hochnäsigkeit und extreme Distanziertheit den Klienten gegenüber leider als „Professionalität“. Entlastend muss allerdings hinzugefügt werden, dass in Deutschland ein äußerst restriktiv auszulegender Schutz von Sozialdaten (SGB I § 35), der unter Umständen sogar die Ermittlungsarbeit der Polizei behindert[3], eine niederschwellige und bürgernahe Vorgehensweise, die sehr wohl Datenschutz da berücksichtigt, wo öffentliche Interessen nicht verletzt werden, unmöglich macht. Gerade wegen dieser Gesetzesnorm hätte die Sachbearbeiterin unseren Namen weder preisgeben müssen noch dürfen.

Auch hätte sie, schon um sich juristisch abzusichern, Nilüfer eigentlich zu einem Amtsarzt einbestellen sollen. Stattdessen durfte die Familie einen Doktor ihrer Wahl konsultieren. Möglicherweise war sie dem schauspielerischen Talent, der Vernebelungstaktik und dem patriarchalischem Bollwerk traditioneller türkischer Wagenburgen, die alles daran setzen, nichts aus der familiären Innenwelt der muslimischen ParaIlelgesellschaft nach außen dringen zu lassen, nicht gewachsen. Für diese Clans gelten universelle Menschenrechte nur vor der Haustüre.

Laurenburg: Sicherlich wurden zunächst laut zeternd wüste Drohungen ausgestoßen, um dann nicht mehr zu leugnende, offensichtliche Missstände, viel Süßholz raspelnd, beschwichtigend zu verharmlosen. Funktionieren Vernebelung und Taqiyya nicht wie gewünscht, greift man zu einer neuen List. Jetzt wird der beanstandete Sachverhalt mit der kulturellen oder religiösen Besonderheit begründet. Ist das Gegenüber dann immer noch nicht überzeugt, die Unschuld vom Lande vor sich zu haben, die über jeden Zweifel erhaben ist und die Rechtschaffenheit in Person, dann knickt jeder gutmenschelnde Kritiker und Zweifler spätestens dann ein, wenn man behauptet, armes Unschuldslamm einer fürchterlichen islamophoben Hetze und diskriminierenden Verleumdungskampagne geworden zu sein.

Wir organisierten einen Termin in der Beratungsstelle für ein Supervisionsgespräch mit allen in den Fall Involvierten. Der Pastor kam in der Tat zur Beratungsstelle. Die Stimmung war eisig Er war allein gekommen, anders als von uns gewünscht. Die von uns angeregte Einladung der Klassenlehrerin, der Mitarbeiterin vom Jugendamt und eines Mitglieds des Presbyteriums hatte er mit den Worten „Das halte ich für keine gute Idee“ einfach verhindert.

Auffällig war, dass der Geistliche während des gesamten Gesprächs nur als Briefträger von Botschaften der Schule und des Jugendamtes fungierte, deren persönliche Anwesenheit er aber erfolgreich verhindert hat. Wieder wies der Priester auf das schwere Unrecht hin, dass der Familie Yilmaz durch die Anschuldigungen widerfahren sei. Die Nachfrage der Psychologin, was der Familie und dem Mädchen außer der Unannehmlichkeit der ärztlichen Untersuchung durch die Einschaltung der Behörden denn Schlimmes passiert sei, konnte der Geistliche nicht beantworten. Meinem Kollegen und mir prophezeite die Psychologin nach dem Gespräch eine gegen uns gerichtete Stimmungsmache aller betroffenen Institutionen im Stadtviertel. Sie sollte Recht behalten.

Eppelmann: Wir sind uns aufgrund von Berichten Dritter, die das Kind jahrelang gekannt hatten, ziemlich sicher, dass Nilüfer nach einem langen Sommerurlaub in der Türkei jetzt wieder in Deutschland lebt.

Dienstag, 10. Juni 2008

Frau Kellers Dar al Harb

دار الحرب

Dār al-Harb,

das „Haus des Krieges“: Ein Leben in

einer nichtislamischen Gesellschaft

Von Ümmühan Karagözlü

Ethnisieren und

Kulturalisieren. Rassismus

oder Notwendigkeit?

Frau Keller sagt:

Schönen guten Tag, ich möchte hier nochmals betonen ich habe überhaupt nichts dagegen das eine Frau, egal welcher Nationalität oder Herkunft Niqab trägt. Wie gesagt ich selber trage keinen- Heute wo der Islam langsam aber sicher auch neutral der breiten Masse erklärt wird gibt es doch immer mehr Menschen welche den Islam als die richtige Religion anerkennen. Aber je mehr sich der Islam “etabliert”, desto größer werden die Angriffe gegen Muslime, weil leider die Gesellschaft weiterhin nur automatisch auf die Worte Terror oder Bombe mit den Muslimen verbindet. Das aber der Islam auf einige Menschen reduziert wird die fälschlicherweise das Wort Gottes mißbrauchen finde ich leider noch trauriger. Oder wurde mal erwähnt welcher Religion dieser Mensch aus Österreich war der seine Tochter Jahrelang im Keller eingesperrt hat missbraucht hat und sogar Kinder mit ihr hatte, die er als Enkelkinder ausgab…davon sagte die Presse nicht. Aber wäre das ein südländisch aussehender Mann würde auf dem Titelblatt stehen:Ein Muslim macht dies und jenes… Aber das nicht jeder Muslim ein Muslim ist, ist auch noch nicht erläutert worden Und doch werden immer wieder alle über einen Kamm geschoren,schade

Sehr geehrte Frau Keller,

ich möchte betonen, dass ich eine Menge Argumente gegen das Tragen eines Niqab mit Tschador habe. Der wichtigste Grund ist der, dass Männer ein solches Gewand nicht zu tragen brauchen, es auch, da bin ich ganz sicher, niemals anziehen würden. So würde sich kein Mann erniedrigen (lassen). Außerdem ist diese weit geschnittene, fußlange islamische Frauenbekleidung genauso bewegungsfeindlich wie Stöckelschuhe mit Pfennigabsätzen. Man kann weder versuchen, den Bus im Endspurt zu erreichen, noch im Notfall schnell laufen, um beispielsweise ein Kind von der viel befahrenen Straße auf den Gehweg zurückzuziehen, bei Gefahr kann man nicht wegrennen. Andere wichtige Motive gegen den absolut blickdichten, meist pechschwarzen Ganzkörperschleier kann man meinem vorletzten Kommentar auf dem Blog Schariagegner entnehmen oder im Post “Männerblicke, Frauenkörper“ Abschnitte 09, 10 und 11 nachlesen.

Übrigens bin ich davon überzeugt, dass man, wenn beide Geschlechter sich so lückenlos bedecken müssten, den Tschador mit Niqab und die Burka aus Sicherheitsgründen verbieten würde. Da der Niqab jede Gesichtsmimik verbirgt, haben wir nämlich nicht den kleinsten Hinweis auf die Stimmung des Gegenübers, wir ahnen nicht einmal, was der Mensch hinter dem Gesichtsschleier gerade denkt oder fühlt, welche Absichten sie / er gerade im Schilde führt. Das wir ihren / seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen und nicht entschlüsseln können, ob von diesem komplett schwarz verhüllten Wesen Gefahr ausgeht, vor der wir uns schützen müssen, irritiert und verunsichert uns sehr. Manche werden vielleicht auch wütend, weil wir von dem bis auf einen Sehschlitz verschleierten Wesen, das dem Titelhelden des in den sechziger Jahren ausgestrahlten gleichnamigen Gruselkrimis, Belfegor, zum verwechseln ähnlich sieht, nicht einmal die Augenfarbe erkennen können, während die Niqabis uns ins offene Gesicht sehen. Solange es sich jedoch bei der Burka und dem Niqab ausschließlich um Frauenbekleidung handelt, gehen wir fast selbstverständlich davon aus, dass sich unter der Burka oder dem Niqab auch tatsächlich eine Frau verbirgt. Allein aus der Geschlechtszugehörigkeit und der Tatsache, dass die Trägerin religiöse Kleidung trägt, leiten wir dann ab, dass eine solch gottesfürchtige Frau keine bösen Absichten hegen kann. Würden auch Männer Burka und Niqab tragen, unterstellen wir ihnen trotz der frommen Kleidung, ausschließlich wegen ihres xy-Chromosoms potentiell bösartig und gewalttätig zu sein. Das ist schlicht und ergreifend naiv und männerfeindlich.

Wer wie Sie, geehrte Frau Keller befürwortet, dass der Islam Leitlinie in allen Lebensbereichen ist und daher den privaten, beruflichen, gesellschaftlichen und politischen Alltag durchdringen soll, sollte sich nicht wundern, wenn eben auch die Berichterstattung in den Medien diesen weltanschaulichen Aspekt würdigt. Familiäre Situation, Lebensumstände, kultureller Hintergrund und Weltanschauungen prägen unsere Persönlichkeit, sie motivieren und erklären unser Handeln. Nur eine solche sachliche, objektive, diese Begleitumstände berücksichtigende Darstellung, die eben nicht nur den Ablauf eines Ereignisses oberflächlich beschreibt, wird dem Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit genauso gerecht wie einer fairen, die individuelle Persönlichkeit der / des Handelnden einbeziehende Berichterstattung. In einem freiheitlich-demokratischen Rechtstaat sind Meinungsfreiheit, Pressefreiheit und der niederschwellige Zugang zu Informationen unveräußerliche Grundrechte, deren Rahmenbedingungen das Grundgesetz festlegt.

Eine verbindliche, ’kultursensible’ Sprachregelung, die einschlägige Berichterstattung quasi zensiert und den Medien vorschreibt, wie sie mit migrationsrelevanten Themen umzugehen haben, ein Sprachkodex also, wie er etwa in Großbritannien[1] [2] und Frankreich[3] auf Muslime bezogen praktiziert wird, lehnen wir ab. Solche Absprachen kämen einer ’Gleichschaltung’ der Medien in diesem Bereich nahe. Sicherlich hinkt dieser Vergleich, da im ’Dritten Reich’, dem der Begriff Gleichschaltung richtigerweise zugeordnet wird, gar keine Information mehr ungefiltert an die Öffentlichkeit kam. Aber gerade wegen der damaligen Pressezensur lassen sich freiheitsliebende JournalistInnen, die das Grundgesetz respektieren, keinen Maulkorb verpassen und auch die demokratische Bevölkerung verzichtet ebenso wenig auf ihr Recht, sich schnell, unkompliziert und objektiv zu informieren. Sie schätzt Meinungsvielfalt, Kritikfähigkeit, selbstständiges Denken und zieht es vor, sich selbst eine Meinung zu bilden.

Für die so genannte ’Mehrheitsgesellschaft’, dazu zähle ich jetzt auch die säkularen MuslimInnen, ist, anders als bei TraditionalistInnen[4] und FundamentalistInnen[5], Religion oder eben auch Nichtreligion Privatsache. Auch das gehört gleichermaßen zum Selbstverständnis demokratischer, säkularer Rechtstaaten wie auch das Recht, seine bisherige Einstellung und Weltanschauung ändern zu können. AnhängerInnen der kulturellen Moderne beurteilen daher Menschen in erster Linie nach ihren Taten, dann werden Motive und eventuelles Eigenverschulden einbezogen. Zusatzinformationen wie die Religionszugehörigkeit oder das Weltbild (z.B. Atheismus, Kultur, Tradition, sexuelle Orientierung, doing-gender) interessieren z.B. dann durchaus, wenn sie für die Motivation zu einer Straftat von Bedeutung sind. Daher ist auch das für seine Verbrechen maßgebliche, unmenschliche, frauenfeindliche, päderastische und patriarchalische Weltbild des Verbrechers aus Österreich in der Berichterstattung der Medien erwähnt worden und nicht seine Religion oder Nichtreligion.

Mir ist die Problematik von ’Hitlers langem Schatten[6]’ und der von den Nationalsozialisten missbrauchten Sprache sehr wohl bewusst. So haben Wörter wie ’Volk’, ’Rasse’, ’Deutschtum’, ’Vaterland’, ’Gleichschaltung’ in der Bundesrepublik einen unschönen, faschistischen Unterton. Trotzdem kann es immer dann sehr nützlich sein, prägende Sozialisationsfaktoren wie Familie, Kultur, Weltbild zu berücksichtigen, wenn signifikante ’Normabweichungen’ ein möglichst differenziertes Analysieren der Lebensumstände sinnvoll erscheinen lassen. Wenn man beispielsweise Jugendkriminalität ’ethnisiert’ oder ’kulturalisiert’, können diese sehr persönlichen Zusatzinformationen helfen, systemische Zusammenhänge zu erkennen und zu reflektieren.

Wie Jacques Auvergne schreibt:

«So wie es kein Machtvakuum gibt, Utopisten und Pazifisten mögen es ja bedauern, so gibt es auch kein Vakuum der Mythen, der Halbwahrheiten und der Vorurteile. Die „ethnischen“, hier: die womöglich chauvinistischen, nationalistischen, xenophoben Vorurteile „den“ Russen oder „den“ Türken gegenüber wabern, schleichen und kriechen ebenso durch unsere Straßenzüge wie durch unsere Hirnwinkel. Zum Anspruch lebenslangen Lernens gehört, sich von übernommenen, einer kritischen Überprüfung nicht standhaltenden Vorurteilen zu emanzipieren. Jetzt aber aus der Angst heraus, als fremdenfeindlich zu gelten den Untersuchungsgegenstand „Integrationsdefizite bei Ethnie Sowieso“ gar nicht erst zur Sprache zu bringen, würde die gebotene Integration mit verhindern. Es geht um die sukzessive Auflösung der Parallelgesellschaften. Um dem Individuum Wege über die Mauer und heraus aus dem ethnisch-religiösen Ghetto zu ermöglichen, müssen beispielsweise Sozialarbeiter, Soziologen und Journalisten diese Ghettos benennen dürfen, auch in der öffentlichen Diskussion.»

Jacques Auvergne weiter:

«Die „Jugendkriminalität mit Migrationshintergrund“ ist zumeist männlich und vermutlich in ganz wesentlichem Umfang Symptom und Indikator für erlebte familiäre Gewalt. Die Gewalt in der muslimischen Familie trägt womöglich zu einer Straftäterkarriere des jungen Mannes ganz entscheidend bei. Im toten Winkel neben den „auffallend“ aggressiven jungen Männern ist zudem eine andere Dimension zu vermuten: Die der „unauffälligen“ Schwester oder Cousine. Neben dem in seinem Milieu meist sogar hoch anerkannten jungen Straftäter mit Einwanderergeschichte steht womöglich eine schüchterne junge Frau, die sich ihren Ehemann nicht aussuchen dürfen wird. In den Straßenzügen nächtlichen Auto-Abfackelns in Paris und Amsterdam steigt die Anzahl der extremen Kopftücher oder Burkas, gehen Mädchen nicht mehr zur Schule. Das ist durchaus der Rede wert.»

Viel zu lange hörte die Öffentlichkeit nichts von der alltäglichen körperlichen und psychischen Gewalt in muslimischen Familien Die dort fast immer anzutreffende archaische, patriarchalische Herrschaftskultur bediente sich jedes Druckmittels, um zu verhindern, dass ’Familienangelegenheiten’ außerhalb des Clans oder gar jenseits der Community bekannt wurden. Die Opfer schwiegen aus Angst, Verzweiflung und Scham. Die autochthone Mehrheitsgesellschaft glaubte allzu gerne dem schönen Schein, den die meist türkischen, kurdischen oder aus dem ehemaligen Jugoslawien stammenden ArbeitsmigrantInnen[7] mit viel Energie aufrecht zu erhalten versuchten. Die deutschstämmige Bevölkerung durchschaute den vormodernen misogynen Ehrenkodex der immigrierten familiären Wagenburgen nicht. Der Zweite Weltkrieg hatte viele Städte, Fabriken und Verkehrswege völlig zerstört, weshalb ein großer Prozentsatz der Überlebensenergie in den Wiederaufbau investiert wurde. Auch die gesellschaftlichen Herausforderungen und politischen Umwälzungen durch die Emanzipation vom Nationalsozialismus und dessen autoritären und patriarchalischen Denkmustern, Sozialisations- und Erziehungsstilen, die Teilung Deutschlands, die 68er-Studentenbewegung und deren ’Marsch durch die Institutionen’, Hausbesetzersene und antiautoritäre Erziehung, sowie die Friedens- und die Anti-Atomkraft-Bewegung lenkte die volle Aufmerksamkeit auf die Bewältigung dieser ureigensten Angelegenheiten. Auf die ’Gastarbeiter’ schaute man nicht, sie waren einem gleichgültig.

Ursprungsdeutsche glaubten zu dieser Zeit, wie die MigrantInnen selbst, dass die ausländischen KollegInnen, NachbarInnen, KlientInnen tatsächlich bald wieder in ihre Heimat zurückkehren würden. Warum sollten Laien wie auch Profis sich näher mit den Gewohnheiten, Denkweisen und Einstellungen dieser Leute beschäftigen? Da fokussierte man doch besser die internen, familiären und innenpolitischen Themen. Als eine Reimmigration in die Herkunftsländer der Zugewanderten immer unwahrscheinlicher wurde, wurden aus ’GastarbeiterInnen’ plötzlich ’MigrantInnen’. Trotzdem änderte sich das ignorante und arrogante Verhalten der Autochthonen eher negativ[8]. Das wertschätzende Interesse an den Menschen und ihrer Kultur reichte gerade noch dazu, Döner-Imbissstuben, türkische Cafes, Restaurants und jugoslawische Steakhäuser zu besuchen und deren landestypischen Spezialitäten zu probieren. Später verbrachten Deutsche manchmal sogar ihren Erholungsurlaub in den Heimatländern der ’GastarbeiterInnen’. Weitab von der türkischen, kurdischen und jugoslawischen Wirklichkeit genossen sie in den künstlichen Bettenburgen der Hotels und Touristenzentren, gemeinsam mit anderen TouristInnen, abgeschottet von der Urbevölkerung, ihre Ferien. Sie erholten sich prächtig, genossen die sonnige, warme Zeit, und waren beeindruckt von der Schönheit der Natur. Einige wenige Bildungsreisende besuchten vielleicht sogar Kulturdenkmäler, viel weiter ging die Anteilnahme in der Regel jedoch nicht.

Durch Verwandtennachzug (wieder)vereint[9] erstarkten Familienbande. Frauen, oft AnalphabetInnen oder wenig gebildet[10], gerade in der muslimischen Umma Garantinnen von Kultur, Religion und Brauchtum, forcierten den Rückbezug auf Religion, Tradition und archaische Sippenstrukturen[11]. Oberflächlich betrachtet vereinfachten diese bekannten, altbewährten Leitlinien und eng gefassten Handlungsspielräume ein Überleben in der moralisch verwerflichen, ignorant und arrogant anmutenden Kuffar-Gesellschaft. Man schottete sich immer mehr ab, äußerlich sichtbares Kennzeichen war das immer radikaler gebundene und zunehmend häufigere Kopftuch. Bald sah man knöchellange Mäntel, später gar Tschador und Burka. Schleichend und von der Mehrheitsgesellschaft viel zu lange toleriert zog sich eine zahlenmäßig immer größer werdende Bevölkerungsgruppe in eine mehrere Straßenzüge umfassende Parallelgesellschaft zurück, die sich in den Innenstädten zu etablieren begann. Weder die BürgerInnen noch die einschlägig befassten Ämter oder Institutionen (Schulen, Einwohnermeldeamt, Sozialamt, Wohlfahrtsverbände, erst recht nicht die Ausländerpolitik, die durch den Begriff Migrationspolitik oder noch später Integrationspolitik nur eine modernere Worthülse bekam), interessierten sich für die Menschen, die sich mehr und mehr in ihre für jede / jeden Außenstehenden undurchdringliche familiäre Wagenburg zurückzogen. Das Gesetz des Schweigens innerhalb muslimischer Lebenswelten, die Unkultur des Schweigens, Wegsehens und Privatisierens ergänzte sich zu einem verhängnisvollen Gemisch des fatalistischen Hinnehmens auf der muslimischen Seite und des eurozentrischen Tolerierens auf der Seite der Ursprungsdeutschen.

Seit etwa 30 Jahren verwässert ein politisch, ideologisch und finanziell unterstützter ’Multikulti[12]-Schmusekurs der Gutmenschen’ die dringend erforderliche, unumgänglich ehrliche Integrationsdebatte zu einer Appeasement- und Frömmelübung seitens deutscher Institutionen, an oberster Stelle Landesregierungen und Bundesregierung und einem Musterbeispiel an Taqiyya und Verschleierungskunst von Seiten der muslimischen Verbände. Dieser politisch korrekte Kurs des Einknickens und Beschwichtigens erschwert den Ausstiegswilligen aus vormodernen Subkulturen (patriarchalischer Stamm oder theokratische Scharia) den Weg in ein selbstbestimmtes Leben, marginalisiert schwelende Konflikte im Zusammenleben der Bevölkerungsgruppen und ignoriert die Unzufriedenheit vieler WählerInnen mit der Zuwanderungspolitik und Integrationsdebatte. Verstöße gegen die universellen Menschenrechte, auch Kinder- und Frauenrechte gehören dazu, dürfen nicht länger entschuldigend kulturalisiert[13], traditionalisiert oder zu ’Einzelfällen’ reduziert[14] werden. Der Psychologe und Publizist Mark Terkessidis, vom Netzwerk Schariagegner zum ’Obersten Versteher und entschlossensten Kämpfer für die Rechte aller Muslime mit Migrationshintergrund’ ernannt, befürchtete gar ein Zweckbündnis der Frauenrechtlerinnen mit Konservativen zu einem feministischen Kreuzzug gegen Muslime[15].

Ja, verehrter Herr Terkessidis, auch FeministInnen steht das Recht zu, politische Koalitionen einzugehen, beispielsweise um unbewaffnet feministische Kampagnen gegen patriarchale Menschenrechtsverletzungen, auch die durch Koran, Sunna und Scharia motivierten, durchzuführen[16]. [17] ’Dschihad’, das muslimische Äquivalent zu den christlichen ’Kreuzzügen’, führen doch wohl eher die Milieus von Genitalverstümmelung von Frauen, ritueller Beschneidung von Jungen, Zwangsverheiratung, Steinigung und Mord aus falsch verstandener Ehre. Übrigens, zu einem, wenn auch geringen Prozentsatz, sind die Opfer solcher unmenschlichen Verbrechen auch muslimische Männer aus patriarchalischen Familienstrukturen. Menschenrechte sind universell, sie gelten nicht nur für KulturrelativstInnen und Multikulti-SchmuserInnen wie Mark Terkessidis. Würden die Autobiographien von MigrantInnen nicht durch differentialistische Multikulti-Träumer und Islamversteher in einseitigen Rezensionen destruktiv zerrissen, wären Jugendämter, Notrufe für Kinder und Jugendliche und Erziehungsberatungsstellen besser informiert und durchsetzungsfähiger. Nur die offene Diskussion in den Medien, Aufklärungsarbeit an Schulen, z. B. in Fächern wie Gesellschaftskunde oder Religion, Aus- und Weiterbildungen von MultiplikatorInnen an Schulen, Jugendämtern, Beratungsstellen, Ausbildungsstätten für SozialpädagogInnen / SozialarbeiterInnen, Hochschulen und Fachhochschulen ermöglicht die dringend gebotene Sensibilisierung für die Rechte und Pflichten von Menschen, auch denen mit Migrationshintergrund. Fatma Bläser und Seyran Ates, übrigens beide Autorinnen von derart kritisierten Autobiographien, sind mutige und schätzenswerte VorreiterInnen solcher sinnvollen Initiativen und Projekte.

Gerade um das Allgemeinwissen über Lebensbedingungen in der BRD, auch das in muslimischen Parallelgesellschaften zu fördern, ist es vorerst immer dann angebracht kulturelle Bezüge objektiv darzustellen, wenn traditionelle, kulturelle und religiöse Strukturen und Verhaltenskodici dazu motivieren, von den Werten und Normen der Mehrheitsgesellschaft abweichende Konzepte zu entwickeln. In der kritischen Auseinandersetzung, die auch in der kulturellen Moderne zu kritisierende Zusammenhänge nicht verschweigt, wird sich dann zeigen, ob diese Handlungs- und Gestaltungsmuster den Herausforderungen der sozialen, freien, demokratischen Gesellschaft gewachsen sind. So kann endlich eine kritische, offene und wertschätzende Integrationsdebatte beginnen, die sich an den individuellen Interessen, Rechten und Pflichten aller Beteiligten orientiert. Nur so erhöht sich der politische Druck auf die Politiker, sich mit den Zukunftschancen aller in der BRD lebenden Kinder, Frauen und Männer zu befassen, sie legt die rechtlichen Möglichkeiten und Arbeitsmethoden von Behörden offen und ermöglicht kritischen Einblick.

Ich bin eine türkischstämmige, säkulare Muslima und finde es sehr schade, dass „die Gesellschaft“ (welche meinen Sie überhaupt?) offensichtlich von Ihnen über einen Kamm geschoren wird. So schreiben sie: …“je mehr sich der Islam ’etabliert’, desto größer werden die Angriffe gegen Muslime, weil leider die Gesellschaft weiterhin nur automatisch auf die Worte Terror oder Bombe mit den Muslimen verbindet.“

Da scheint Ihnen entgangen zu sein, dass Ausländerbeiräte, Integrationsräte, Integrationsbeauftragte, GewerkschaftlerInnen, die Mehrzahl der VolksvertreterInnen in Landtag, Bundestag und Europarat sowie die meisten BürgerInnen der BRD wie auch Europas, die sich sicherlich als dieser Gesellschaft zugehörig verstehen, ein wesentlich differenzierteres, jedoch eher zu positives Bild von MuslimInnen haben. BürgerInnen wie Necla Kelec, Alice Schwarzer, Serap Cileli, Seyran Ates, Sonja Fatma Bläser, Ahmed Tropak, Halis Cicek, Ayaan Hirsi Ali, Mina Ahadi und einige andere Persönlichkeiten bemühen sich seit langem um objektive Diskussion der Alltagssituation von MuslimInnen. Auch eine Menge Sites im Internet, darunter wie sie ja wissen auch einige Blogs, tragen zum vielschichtigen, komplexen Bild der MuslimInnen in der Öffentlichkeit bei, durchaus islamkritische wie Sägefisch und Schariagegner sind dabei[18], wie auch dem Scharia- und Fiqh-Islam sehr wohl gesonnene[19]. Auch LehrerInnen, ErzieherInnen SozialarbeiterInnen / SozialpädagogInnen, MitarbeiterInnen von Einwohnermeldeamt, Sozialamt, Wohlfahrtsverbänden, vermitteln öffentlich den Eindruck einer individuell, kulturell und traditionell sehr unterschiedlichen muslimischen Bevölkerungsgruppe.

Jedoch werden diese Männer und Frauen genauso wie Sie selbst, verehrte Frau Keller, zugeben müssen, dass Selbstmordattentate und sonstige terroristische Anschläge mit mittlerweile vielen tausend auch muslimischen Opfern in den letzten Jahren fast ausschließlich von MuslimInnen verübt wurden. Wenn ich auch als säkulare Muslima das nicht gerne eingestehe, lässt sich diese Tatsache nun mal nicht leugnen. Man kann sich eben nicht waschen ohne nass zu werden. Für Verbrechen im Namen eines Kollektivs gibt es eine Kollektivverantwortung, auch wenn man nicht persönlich beteiligt war, selbst wenn man gar nicht beteiligt gewesen sein kann, weil man zu jung war oder noch nicht geboren war. Der Genozid an den ArmenierInnen und JüdInnen ist ebenfalls eine solche Untat.

Leider gerät die ETA seit etwa einem halben Jahr wieder durch Bombenanschläge negativ in die Schlagzeilen. Doch offensichtlich achtet diese baskische Untergrundorganisation menschliches Leben, auch das Andersdenkender, und warnt Betroffene rechtzeitig, damit sie sich in Sicherheit bringen können. Man verstehe mich bitte nicht falsch, ich verurteile sicherlich auch Bombenanschläge, die „nur“ Sachschaden verursachen, wie ich jede Form von Gewalt kritisiere und verurteile, aber auch Terroranschlag ist nicht gleich Terroranschlag.

Sicherlich gibt es MuslimInnen, die ihre Religion aus verschiedensten Gründen missbrauchen, muslimische SelbstmordattentäterInnen und TerroristInnen gehören jedoch keinesfalls dazu. Im Gegenteil, sie sind besonders gottesfürchtige und bemühte Söhne und Töchter Allahs, eifrige und glühende AnhängerInnen von Koran[20] und Sunnah[21], deren Leitlinien sie wortwörtlich umsetzen. Wenn die ’Anstrengung auf dem Weg zum Glauben’ wesentlich mehr Lösungsvorschläge, Handlungsoptionen und ‑anleitungen als die der Gewaltanwendung umfasst, laut Koran und Sunna ist es die von Allah besonders belohnte, im bewaffneten Kampf getötet zu werden[22]. Diesem versprochenen Lohn eifern sie durch Hassprediger höchst islamgetreu und religiös motiviert entgegen.

Reflektierte Kritik, die beispielsweise gegen kulturell vormoderne Inhalte, Denkmuster und Verhaltensweisen argumentiert, ist überlebenswichtig. Sie garantiert, dass geistige, körperliche und psychische Gesundheit von Frauen, Kindern und Männern keinen Schaden nimmt sowie deren individuelle Entwicklung zur reifen, gebildeten wie auch kritischen Persönlichkeit geschützt und gewährleistet bleibt, damit Kinder. Jugendliche und Erwachsenen den Herausforderungen der kulturellen Moderne selbstsicher und kompetent begegnen können. Auch unsere Demokratie, das Grundgesetz und die universellen Menschenrechte, von deren Freiheiten und verbesserten Lebensbedingungen auch Sie, verehrte Frau Keller, profitieren, wären ohne Meinungsvielfalt durch offene und freie Diskussion gefährdet. Rahmenbedingung sollte jedoch ein wertschätzender und fairer Diskussionsstil sein. Muslimische GegnerInnen der Islamkritik, die ihre Ansichten auf Koran, Sunna und Scharia beziehen wollen, haben jedoch kaum die Gelegenheit, diskriminierende Verallgemeinerungen zu vermeiden, weil die Allgemeinplätze dieser theokratischen und totalitären Leitlinien ihnen keine Möglichkeit dazu lassen. So ist „der ganze Körper der Frauen Aurah, deren man sich schämen muss“, sie alle können „Staatsgeschäfte nicht kompetent ausführen, weil es ihnen an Verstand und Einsichtsvermögen fehlt, deshalb muss ihre Zeugenaussage vor Schariagerichten von zwei weiteren Zeugen bestätigt werden. Zeigt eine Frau eine Vergewaltigung vor diesem Gottesgericht an, braucht sie aus dem gleichen Grund das Geständnis des Täters oder sogar vier männliche Zeugen, die ihre Darstellung bestätigen“, die weibliche Bevölkerung ist „verführerisch, teuflisch und verbreitet Fitna“, alle „Ungläubigen sind Feinde des Islam und der MuslimInnen“, „Juden sind Affen und Schweine“, „Der Islam wird auf einige Menschen reduziert, die fälschlicherweise das Wort Gottes missbrauchen“ und so weiter.

Es scheint jedoch zu den Überlebensstrategien der Menschen zu gehören, Zusammenhänge zu vereinfachen, indem man wesentliche Merkmale vergleicht und in bestimmte „Schubladen“ einordnet. Man behält Gelerntes leichter, spart Kapazitäten durch Wissenstransfer und erhält einen besseren Überblick. Diese grobe Strukturierung entlässt uns jedoch nicht aus der Verantwortung, Inhalte später zu reflektieren und zu präzisieren. Somit ist nicht das vorläufige Pauschalisieren das Problem, sondern das offensichtliche, nachhaltige Unvermögen, diese Verallgemeinerungen zu reflektieren. Nur durch kritisches Überprüfen und Nachdenken kann es weitgehend gelingen, einseitige, unfaire und beleidigende Wertungen sowie bewusstes Verbreiten von verallgemeinernden Unwahrheiten zu verhindern. Um es kurz zu fassen: Vor Inbetriebnahme des Mundwerks oder Schreibwerkzeugs bitte das Gehirn einschalten.

Mit freundlichen Grüßen

Ümmühan Karagözlü

Quellen:

http://www.ahlu-sunnah.de /

http://ayaanhirsiali.org /

http://kameltreiber.blogspot.com /

http://www.derprophet.info/anhaenge/anhang2.htm

http://www.derprophet.info/anhaenge/anhang3.htm

Der Prophet hat gesagt: „Ein Märtyrer hat sechs Verdienste bei Gott: Ihm wird beim ersten Blutschwall Vergebung gewährt, ihm wird sein Platz im Paradies gezeigt, er wird vor der Bestrafung im Grabe geschützt, er ist vor dem allergrößten Schrecken sicher, ihm wird die Krone der Würde aufgesetzt, deren Rubin prachtvoller ist als die ganze Welt und was darin ist, ihm werden 72 großäugige Huris geschenkt und er wird für 70 Verwandten zum Fürsprecher gemacht.”



[3] The Palestine Mandate of the League of Nations 1922. By Ami Isseroff, Mideast Web http://www.mideastweb.org/mandate.htm ,

[6] Arno Plack 2001; Buchtitel, Verlag Langen / Müller

[11] unter ihnen viele so genannten Importbräute, Necla Kelek: Die fremde Braut, Goldmann Verlag

[22]http://www.bloghof.net/hatif/archive/2005/07 Der Prophet hat gesagt: „Ein Märtyrer hat sechs Verdienste bei Gott: Ihm wird beim ersten Blutschwall Vergebung gewährt, ihm wird sein Platz im Paradies gezeigt, er wird vor der Bestrafung im Grabe geschützt, er ist vor dem allergrößten Schrecken sicher, ihm wird die Krone der Würde aufgesetzt, deren Rubin prachtvoller ist als die ganze Welt und was darin ist, ihm werden 72 großäugige Huris geschenkt und er wird für 70 Verwandten zum Fürsprecher gemacht.”