Sonntag, 20. Januar 2008

Indonesien: Genitalverstümmelung an muslimischen Mädchen

046

الاسمُ

khafd -

islamische Frauenbeschneidung.

Female genital mutilation (FGM)

FGM ist auch

indonesisch

Bislang einfach totgeschwiegen:

Genitalverstümmelung an Frauen

ist auch im größten muslimischen

Staat der Erde eine Alltäglichkeit

Von Jacques Auvergne, 20. Januar 2007

Muslimische Massenverstümmelungen an kleinen Mädchen in aller Öffentlichkeit, Blut und Schreie auf den Schulhöfen der Stadt Bandung, die mit drei Millionen Einwohnern der viertgrößten Stadt Indonesiens ist. Das klingt so verstörend, dass man es zunächst nicht glauben möchte.

FGM in Indonesien! Das ist selbst uns neu, die wir uns seit knapp zwei Jahrzehnten mit dem Thema Genitalverstümmelung an Frauen ausgiebig befasst haben. Indonesien praktiziert Großgruppen‑Beschneidungsaktionen in öffentlichen Einrichtungen wie Gebetssälen oder Grundschulen.

Ist das erst seit heute bekannt? „Akte Islam“ schreibt am heutigen Tage von der indonesischen Variante jener brutalen und archaischen Praxis, die wir normalerweise in der Sahelzone zwischen Senegal und Somalia vermuten würden mit Schwerpunkten wie Mali und Sudan.

Waris Dirie und Ayaan Hirsi Ali berichteten aus den ostafrikanischen Kulturen der Frauenbeschneidung. Vereine wie Forward, Intact, Tabu, Wadi und die Organisation terre des femmes, Personen wie Rüdiger Nehberg, Thomas von der Osten-Sacken (Nord-Irak) leisteten wichtige und weltweit anerkannte Arbeit an der Abschaffung der FGM, journalistisch immer wieder beispielsweise von Alice Schwarzer (EMMA) unterstützt.

Die Verbreitung der FGM nach Nordosten hin schien im Jemen zu enden. Dann aber wurde dank der Arbeit des Vereins Wadi die Frauengenitalverstümmelung der nordirakischen Kurden der Weltöffentlichkeit bekannt – diese Tatsache war bis dahin selbst unter Völkerkundlern und Irak‑Experten unbekannt. Aber Indonesien?

Auch in Südostasien scheint es zum Thema Beschneidung weiblicher Genitalien „untold stories“, unerzählte Geschichten zu geben.

Was ist bis heute bekannt?

„Akte Islam“ ist es wohl, der das Verdienst gebührt, das traurige Thema der indonesischen islamischen FGM endlich im deutschen Sprachraum bekannt zu machen.

Chronisch geleugnet:

Der Islam und die FGM

Im November 2006 entschied die für den sunnitischen Islam höchste Autorität genießende „Universität“, die Kairoer Al‑Azhar, dass weibliche Genitalverstümmelung nicht mit dem Islam zu vereinbaren sei. Was wohl auch nicht ganz ernst gemeint ist, denn die Millionenstadt Kairo praktiziert täglich die FGM in Form der ägyptischen Klitoridektomie. Wollte die Al‑Azhar die kulturelle Moderne beschwichtigen oder will sie die Genitalverstümmelung wirklich abschaffen? Dass muss sie unter Beweis stellen, man darf gespannt sein. In den vorausgegangenen Jahrhunderten und Jahrzehnten hielten Gelehrte der Azhar FGM sehr wohl für erlaubt oder gar für ehrbar. Seit 2007 ist FGM in Ägypten bei Strafe verboten (Wikipedia), doch wird, wie islamisch üblich, alles die familiären Angelegenheiten Betreffende nicht der staatlichen Deutung überlassen. Weshalb abzuwarten ist, ob das Verbot messbare Auswirkungen haben wird: Ob die Zahl der Klitorisamputationen an den kleinen Mädchen im muslimischen Kairo sinken wird.

Zum Prozentsatz der betroffenen indonesichen Mädchen und Frauen lässt sich die ungeheuerlich hohe Zahl „96“ nennen: Akte Islam zitiert Sara Corbett, die am heutigen Tage in der New York Times („A Cutting Tradition“) die Weltöffentlichkeit auf dieses ausgesprochen islamische Thema hinweist: 96 Prozent der Familien mindestens im Großraum Bandung und wahrscheinlich im gesamten West‑Java gaben an, ihre Töchter spätestens im Alter von 14 Jahren der grausamen Prozedur auszuliefern. In West Java (Jawa Barat), das erst im 15. und 16. Jahrhundert islamisiert wurde, rechnen sich 94 % der Bewohner dem Islam zu (unter Jawa Barat bei Wikipedia).

Der Zusammenhang von Islam und FGM wird von Muslimen wie Islamfreunden nahezu täglich ganz aufgeregt geleugnet. Richtig ist, dass FGM vorislamisch ist und damit teilweise von Polytheisten und ebenso auch von Christen praktiziert wurde. Seit Jahrhunderten jedoch ist FGM ein Problem der islamisierten Gebiete der Erde, weshalb wir die Autoritäten dieser Religion aus ihrer Verantwortung für dieses Brauchtum nicht entlassen möchten. Viele lokale islamische Autoritäten befürworten die Frauenbeschneidung. Wir werden sehen, dass das in Indonesien nicht anders ist als im Gebiet zwischen Senegal und Somalia.

Die Assalaam‑Foundation

Die islampädagogische und islamsozialarbeiterische Assalaam-Foundation ist es, die seit einiger Zeit die Organisation und Durchführung der Massenverstümmelungen an Indonesiens Mädchen organisiert und verantwortet. Grundschulen verwandeln sich vorübergehend in Operationssäle, Schultische in Operationstische. Es fließt, ganz professionell, kaum Blut.

Vermutlich sollte die Menschheit auf universelle Pädagogik und universalistische Sozialarbeit Wert legen, so lange jedenfalls, bis islamische Staaten wie der weltweit bevölkerungsreichste in der Lage sind, dem sexualmagischen Tun solcher „islamisch‑caritativer“ und „islamisch‑erzieherischer“ Organisationen wie der Assalaam‑Foundation eine Ende zu bereiten. Dank frommer Sponsoren und ehrenamtlichen Einsatzes ist die Mädchenbeschneidung kostenfrei.

In der islamischen Bevölkerung von Bandung und West‑Java hält sich der Glaube, dass Mädchenbeschneidung genau so ehrenhaft und gottgefällig sei wie die (ebenfalls vormoderne) Jungenbeschneidung. Salam heißt Frieden und der Name des religiös inspirierten Vereins lässt sich mit Friedens-Gesellschaft oder Stiftung für den Frieden übersetzen.

Lukman Hakim

Der Beauftragte für Soziale Dienste der Assalaam‑Stiftung heißt Lukman Hakim und ist ganz begeistert von FGM. Die Operation diene dem sexuellen, sozialen und seelischen Wohl der Mädchen. Dafür nennt der fromme Muslim drei Gründe.

Zum ersten werde die FGM die Libido des Mädchens stabilisieren.

Zum zweiten werde das Mädchen oder die Frau in den Augen ihres Ehemannes als viel schöner erscheinen.

Zum dritten werde die Psyche des Mädchens ins Gleichgewicht gebracht.

Der Photographin Stephanie Sinclair wurde es im April 2007, dem Lunarmonat der Geburt des Propheten dann auch gerne gestattet, die Großgruppenbeschneidungen an Mädchen zu dokumentieren.

Sinclair wurde Zeugin, wie eines Sonntag morgens mehr als zweihundert Mädchen an ihren Genitalien beschnitten wurden, viele davon anscheinend erst vier Jahre alt.

Zaghaft beginnt im größten muslimischen Land der Erde eine vorsichtige Diskussion darüber, ob Mädchenbeschneidung zweckmäßig sei. Kenner des Landes meinen, dass sich ohne einen Bann seitens der höchsten islamischen Autoritäten Indonesiens an der alltäglichen Praxis nichts ändern werde. Ein Anfang Oktober 2006 (intact-network.net) bekannt gewordener und wohl bis heute noch nicht offiziell verabschiedeter Gesetzesentwurf soll medizinischem Personal die künftige Mitarbeit an den Massenbeschneidungen untersagen, doch wird die FGM ohnehin überwiegend von Menschen durchgeführt, die das „traditionelle Beschneidungshandwerk“ gelernt haben oder geburtshelferisch ausgebildet sind. Ob Indonesiens Beschneidungen, wie in Afrika üblich, ausschließlich von Frauen durchgeführt werden?

Die Schwere der Verstümmelung variiert regional sehr. Während in einigen Teilen Indonesiens eine eher rituelle Ritzung der Klitorishaut oder auch zusätzlich der Klitoris mit einem Messer oder Skalpell üblich ist, während in manchen Dörfern und Städten ein mit einem Nadelstich erzeugter „sinnzeichenhafter Tropfen Blut“ fließen muss, um das Geschlechtsorgan sexualmagisch und im Sinne einer Initiation „zu reinigen“, so wird in anderen Landesteilen Hautgewebe oder auch zusätzlich gleichzeitig Klitorisgewebe amputiert, dass „die Größe einer Bohne“ oder „die Größe eines Nadelkopfes“ hat. Jedenfalls wird aus der als „problematisch aufgeladenen“ Klitorisregion „etwas herausgeschnitten“. Dazu benutzen die Operierenden zumeist eine Schere und Desinfektionsmittel.

Die Mädchen müssen beschnitten sein, so will es die Mehrheit sowohl der muslimischen Indonesier als auch der islamischen lokalen Gemeinschaften (intact-network, 4.10.2006). Den Umfragen nach betrachteten 2007 noch 82 % der Familien ein „Schneiden“ als sittlich angemessen (New York Times, 20.01.2008). Auch die Forderung nach operativer Entfernung von intaktem genitalem Körpergewebe in der Volumengröße „eines Samenkorns einer Guave“ oder eines „Viertels eines Reiskorns“ hält sich im Islam von Generation zu Generation.

Ob auch etwas mehr weg geschnitten werden darf? Das ist wohl zu vermuten. Der bildhafte und nicht nur bei Verwendung einer Schere zugleich bezeichnend widersinnige Ausspruch von der Größe „eines Viertels eines Reiskorns“ scheint mir aus dem fatwaproduzierenden Milieu augenzwinkernder Männerbündler zu stammen und erinnert ein wenig an die Sache mit der Frage nach dem korangemäßen Prügeln der widerspenstigen Ehefrau: „Ja, aber nur ein wenig und nicht ins Gesicht und mit einem Hölzchen groß wie ein Zahnstocher.“ Eben augenzwinkernd: Es mag so oder auch anders sein. So viele Zahnstocher werden dann im entscheidenden Augenblick nicht auffindbar sein. Das ist dann Kismet.

Von Klitoridektomie, wie sie in Ägypten, dem Urlaubsziel der ebenso sonnenhungrigen wie gleichgültigen Mitteleuropäer üblich ist, ist der New York Times aus dem Indonesien des Jahres 2007 nichts bekannt. Nichts oder noch nichts?

Frau Sri Hermiyanti vom Gesundheitsministerium in der Hauptstadt Jakarta spielt die Unschuldige. Dr. Hermiyanti hält die „rituelle Reinigung“ der Mädchengenitalien für harmlos und bedauert im selben Atemzug, dass in Indonesien doch leider zumeist auch eingeschnitten oder sogar genitales Gewebe weg geschnitten wird. Sie weiß genau, dass immer ein wenig Blut fließen muss, verteidigt derartige archaische Sexualmagie und verschweigt das Umfunktionieren der Schulbänke in Operationstische ebenso wie die die Schmerzensschreie der Mädchen.

Beobachter der Gruppe „Population Council“, die Indonesiens Regionen vor 2003 bereist haben, berichteten sehr wohl von einer gelegentlichen Durchführung der Klitoridektomie.

Laut Forward Germany soll FGM auch in Malaysia vorkommen.

Jacques Auvergne

Quellen zur

Beschneidung weiblicher Genitalien

Wikipedia

deutsch

http://de.wikipedia.org/wiki/Beschneidung_weiblicher_Genitalien

englisch;

Wort FGC etwas bevorzugt gegenüber FGM

http://en.wikipedia.org/wiki/Female_genital_cutting

französisch;

Landkarte: klar „Indonesien nicht betroffen“

http://fr.wikipedia.org/wiki/Mutilations_g%C3%A9nitales_f%C3%A9minines

FGM und Islam, Wikipedia:

http://de.wikipedia.org/wiki/Beschneidung_weiblicher_Genitalien#Vorkommen_im_Islam

FGM in Indonesien:

Akte Islam am 20.01.2007

http://www.akte-islam.de/3.html

New York Times am 20.01.2007

http://www.nytimes.com/2008/01/20/magazine/20circumcision-t.html?_r=3&oref=slogin&ref=magazine&pagewanted=print&oref=slogin&oref=slogin

FGM in Kurdistan:

Wadinet

http://www.wadinet.de/projekte/frauen/fgm/studie.htm

http://www.wadinet.de/wadiev/presse/spiegel/16-06-06_diepresse.htm

FGM in Somalia

Faduma Korn

http://www.faduma-korn.de/info_fgm.htmlhttp://www.faduma-korn.de/info_fgm.html

Intact

http://www.intact-network.net/

Verein Tabu

http://www.verein-tabu.de/

Target (Rüdiger Nehberg)

http://www.target-human-rights.de/HP-00_aktuelles/index.php

FGM auch in Indonesien und Malaysia

Forward Germany

http://www.forward-germany.org/index.php?page=weibliche_beschneidung

Dienstag, 15. Januar 2008

Sozialpädagogisches Selbstverständnis

Anonymus kommentierte zu Ehrenmord in Mönchengladbach

Diese Darstellung ist außerordentlich undifferenziert und unanalytisch und darum äußerst ärgerlich. Hier werden Feindbilder produziert, die beim Kampf gegen Gewalt (gegen Frauen) nicht weiterhelfen und das Zusammenleben zwischen Menschen verschiedener Herkunft und Religion unnötig erschweren.

Bitte bitte liebe Sozialpädagogen: orientiert euch in eurer Arbeit bitte an komplexeren und intelligenteren Analysen! Ihr habt wichtige Arbeit zu machen, aber bitte nicht auf einer solchen Basis!“ –anonymous–

Wir meinen dazu:

Sehr geehrte/r Anonymus

Ihrer Bitte werden wir nicht nachkommen. SozialarbeiterInnen und SozialpädagogInnen sind geradezu verpflichtet, Dinge bei ihrem passenden Namen zu nennen, auch wenn sie damit gegen Tabus verstoßen. Sie decken Missstände auf, beschreiben sie authentisch und analysieren Ursachen und Wirkung ohne zu beschönigen. Dabei entwickeln sie gemeinsam mit den KlientInnen Lösungskonzepte auf dem Fundament des Grundgesetzes und innerhalb seiner Rahmenbedingungen. Das erweitert die Handlungsoptionen letztendlich für alle, verbessert die Lebensqualität und trägt nicht unwesentlich dazu bei, unsere Gesellschaft humaner zu gestalten.

Erfolgreiche SozialarbeiterInnen und SozialpädagogInnen sind eckig und kantig und reden niemandem nach dem Mund. Effektive und effiziente Soziale Arbeit ist Hilfe zur Selbsthilfe und in diesem Sinne parteiisch. SozialpädagogInnen und SozialarbeiterInnen sind das Bindeglied zwischen Individuum und Gesellschaft, sie sind oft in der undankbaren Position, Übermittler schlechter Botschaften zu sein und stoßen unangenehme aber notwendige Diskussionen an. Couragierte SozialpädagogInnen und SozialarbeiterInnen schwimmen nur selten mit dem Strom. Sie sind im positiven Sinne unangepasst und für manche/n mögen ihre Darstellungen und Ansichten ärgerlich sein. Das ist für uns ein Qualitätskriterium.

Stein des Anstoßes zu sein, damit können meine KollegInnen im Netzwerk Schariagegner und ich jedoch ganz gut leben. Sie sehen es als ihre Pflicht, aufzuklären und kulturell vormoderne Moralbegriffe, Verhaltensregeln und Lebenskonzepte anzuprangern und aktiv zu bekämpfen. Jede Bürgerin und jeder Bürger soll die Chance haben, ihr / sein .Leben selbst in die Hand zu nehmen und nach eigenen Neigungen, Interessen, Wünschen und Talenten entsprechend individuell zu gestalten, jedes Kind hat das Recht auf eine selbst gestaltete, maßgeschneiderte Biographie. Handlungsrahmen sind auch hier das Grundgesetz, sowie abgeleitete Gesetze und Rechtsvorschriften.

Die MitarbeiterInnen im Netzwerk Schariagegner haben sich verpflichtet dafür Sorge zu tragen, dass die notwendigen politischen, gesellschaftlichen und individuellen Voraussetzungen für eine derartige persönliche Lebensgestaltung zugänglich sind, geschaffen oder verbessert werden. Das Zusammenleben von Menschen verschiedener Herkunft und unterschiedlicher Religionen soll in erster Linie für alle gleichermaßen selbstbestimmt und erfüllend sein, nicht reibungslos und leicht. Political Correctness, Appeasement und Kompromisse um des lieben Friedens willen sind dabei keine nachhaltige Lösungsstrategie.

Im Gegenteil, multikulturelles Gutmenschentum relativiert Leid und verharmlost und konserviert patriarchale Machtmuster. Hier ist eine durch konsequentes, geradliniges Handeln geprägte Soziale Arbeit angesagt, die nötigenfalls Dissonanzen in den Alltag von Menschen bringt und zur unbequemen Zumutung wird. Nur so wird ein Umdenken auf beiden Seiten, der Autochthonen und Allochthonen eingeleitet, dass den Irrweg des Kulturrelativismus als solchen erkennbar macht und durch faire Begegnung sowie Gespräche auf Augenhöhe ersetzt.

Ümmühan Karagözlü,

mitunterzeichnend

Cees van der Duin

Thea Stavridis

Jacques Auvergne

Juliana Zeedijk


Brief an Ebru: Konfliktstoff Kopftuch


Liebe Ebru,

auch ich legte schon als selbstbewusstes Grundschulkind großen Wert darauf, meine Kleidung im Geschäft selbst auszusuchen und morgens so zusammenzustellen, dass mir die Sachen, die ich anzog, auch gefielen. Das hat sich als Jugendliche und später als Studentin trotz des knappen Budgets nicht geändert und auch heute als berufstätige Frau und Mutter genieße ich die Freiheit, mich so zu kleiden wie ich möchte. Während ich mich als 10-jährige an der Garderobe meiner Lieblingslehrerin orientierte, sind mir heute Witterung, Funktionalität, der Anlass, zu dem ich mich passend kleiden will sowie meine augenblickliche Stimmung und Seelenlage maßgebliche Entscheidungshilfen bei der Auswahl.

Es ist also durchaus möglich, dass ich an einem Tag den maskulin wirkenden, klassischen Hosenanzug Marke erfolgreiche Geschäftsfrau bevorzuge, am nächsten Morgen mich für eine romantisch gesmokte, betont weibliche Bluse mit Carmenausschnitt und einen weitschwingenden Rock entscheide, während mir am Tag danach eine flippig bunte Sommerbluse mit farblich passenden Bermudashorts besonders gefällt. Sollte ich nachträglich wirklich einmal feststellen, mich bei der Auswahl der Kleidung vergriffen zu haben, ist das kein Problem, es wird sich eine Gelegenheit finden, sich umzuziehen. Ist dies aus irgendwelchen Gründen nicht möglich, kann mich jedoch Nichts und Niemand zwingen, am folgenden Tag wieder in dem unbequemen Outfit herumzulaufen.

Diese Freiheit hat eine Kopftuch tragende Muslima nicht. Selbst im Sommer bei schwülster Mittagshitze darf sie das Tuch nicht abnehmen, denn hat sie sich einmal dazu entschlossen, ihre Haare zu bedecken, ist das Tuch wie festgewachsen. Alternativen bestehen dann nur in Farbwahl, Muster und Stoffbeschaffenheit, denn selbst die unterschiedlichen Möglichkeiten die Tücher zu binden, sind zumindest für die Befürworterinnen der streng gebundenen Formen des Hijabs, die Kopf, Stirn, Hals und Schultern bedecken, sehr eingeschränkt. Die Befürworterinnen dieses fundamentalistischen Kopftuchs werden künftig keine liberalere Variante mehr tragen wollen und können, die mehr Haut zeigt.

Wäre das Kopftuch wirklich eine Freiheitssache, müsste es möglich sein, sich im Haus und in der Öffentlichkeit nach Lust und Laune mal ‘gut betucht‘, mal ‘oben ohne‘ zu bewegen. Zur ‘Freiheit‘ das Kopftuch anzulegen gehört immer auch die Freiheit, ohne Furcht darauf verzichten zu können, um bei einer anderen Gelegenheit einfach wieder nach diesem Utensil zu greifen. Trugen die ersten Arbeitsmigrantinnen das Kopftuch, um sich vor Wind und Wetter zu schützen oder um wie die Schauspielerin Catherine Deneuve und die spätere Fürstin von Monaco, Gracia ihre elegante Kleidung modisch aufzupeppen, ist das heute jedoch nicht mehr möglich, weil das meist seidene Tuch längst nicht mehr als nützliches Kleidungsstück oder Modeaccessoire getragen.

Heute verteidigt die zweite und dritte Generation dieser Einwanderer den ‘Konfliktstoff‘ sinnbildlich gesprochen mit Zähnen und Klauen als ihren individuellen Weg der Selbstverwirklichung, als kulturelles Symbol, als Zeichen der Zugehörigkeit zur Umma. Waren zunächst nur vereinzelt moderat gebundenen ‘Piratenkopftücher‘ im Straßenbild zu entdecken, die noch viel Haar offen zeigten, ist die Anzahl der jede Haarsträhne versteckenden, den Oberkörper bis zu den Schultern verhüllenden Schleier gerade unter den jungen, bildungsnahen Frauen stark gestiegen. Selbst Grundschulkinder in der zweiten Klasse, die ihren Kopf und Hals bedecken, fallen mir seit 2005 vermehrt auf.

Freiheit, so wie viele säkulare MuslimInnen sie verstehen, ist die Möglichkeit ohne Zwang, Angst vor Bestrafung und ohne Bevormundung zwischen verschiedenen Handlungsmöglichkeiten zu wählen. Es sollen Spielräume des individuellen Gestaltens geschaffen und erweitert werden, die Zufriedenheit soll gesteigert und die Lebensqualität verbessert werden. Um dabei auch die Interessen der Mitmenschen genügend zu berücksichtigen und deren Freiräume nicht unnötig einzuschränken, gibt es Rahmenbedingungen, die aus frei verhandelbaren, ungeschriebenen Vereinbarungen und Wertvorstellungen der kulturellen Moderne wie auch aus mehrheitsfähigen verfassungsgemäßen Gesetzen bestehen.

Ein solches, weitgehend selbstbestimmtes Leben setzt ein kritisches, verantwortungsbewusstes Verstehen und Überdenken der betreffenden Situation voraus, das möglichst reflektiert Vor- und Nachteile abwägt und dann eine Entscheidung trifft. Dabei ist die Chance sein Leben in eigener Regie zu gestalten und das Recht, die individuelle Biographie selbstbestimmt beeinflussen zu können, offensichtlich für die meisten so attraktiv, dass mögliche Fehlentscheidungen hingenommen und als Gelegenheit gewertet werden, damit umgehen zu lernen und Rückschlüsse zu ziehen, wie künftig solche Irrtümer vermieden werden können. Dabei ist die / der Einzelne immer wieder aufs Neue gefordert, Entscheidungen zu treffen und daraus zu lernen.

Zu so komplexem Denken und Handeln sind Achtjährige jedoch nicht in der Lage, dazu fehlt ihnen vor allem die Einsichtsfähigkeit in die Folgen ihres Tuns. Sie orientieren sich wie weltweit alle Kinder ihres Alters an Leitbildern in ihrem sozialen Umfeld und kopieren deren Verhaltensmuster. Geprägt durch Elternhaus, Koranschule und Umma sind sie vor allem den Brüdern und älteren männlichen Verwandten Respekt und Gehorsam schuldig. Im Fokus ihres Erziehungs- und Sozialisationsprozesses steht das traditionelle Menschenbild und Rollenverständnis des Islams, sie lernen von klein auf, eigene Interessen zu Gunsten der Gemeinschaft zurückzustellen und den Regeln der koranisch geprägten Sippe zu folgen.

Sehr familienbezogen, mit noch weniger Kontakten zu ‘ungläubigen‘ Gleichaltrigen, kennen die Kinder keine anderen Kleidungsgewohnheiten und wie mir meine Schülerinnen versichern, weisen die Koranschulen eindringlich (hoffentlich ohne Gewaltmittel) auf fromme Kleidungsregeln hin. Auch im Elternhaus wird der islamische Kleidungskodex ein zentrales Thema der religiösen Erziehung der Kinder sein und vor allem die selbst tief verschleierten Mütter werden deutlich auf die Vorzüge gottgefälliger Kleidung hinweisen. Hat sich die überwiegende Mehrheit der weiblichen Angehörigen in einer Familie für den Hijab entschieden, werden die Mädchen ihrem Beispiel sicher nacheifern.

Durch den Mangel an weniger fundamentalistisch orientierten Identifikationsfiguren im zahlenmäßig bewusst recht klein gehaltenen sozialen Umfeld haben die Kinder kein Bedürfnis, die Haare offen zu tragen. Viele Mädchen können sogar den Zeitpunkt kaum erwarten, endlich ‘dazu‘ zu gehören und das auch nach außen kenntlich zu machen. Ein weiterer Grund, aus dem Grundschülerinnen zum Kopftuch greifen, ist die einhergehende soziale Aufwertung im Clan. Konnte bisher selbst der kleinste Bruder ungestraft seinen Spott mit den Mädchen treiben, sind diesem Unfug jetzt gewisse Grenzen gesetzt. Alles sehr nachvollziehbare Gründe, sich früh zu verschleiern, mit Freiheit hat das aber wenig zu tun.

Um diesen altersgemäß leicht zu beeinflussenden, in ihrer Persönlichkeitsentwicklung unreifen Kindern eine wirklich freie Entscheidung zu ermöglichen, müssen alternative Erfahrungs- und Gestaltungsräume her, die weltanschauliche Neutralität garantieren. Diese Haltung sollte durch einfache, weder wertende noch symbolträchtige Kleidung dargestellt und umgesetzt werden. Gänzlich kopftuchfreie koedukative Kindergärten und Schulen, in denen sich auch die Mädchen ‘oben ohne‘ bewegen dürfen (französisches Modell), wären sicherlich ideale Lern- und Experimentierfelder. Mit dem Kopftuchverbot für Lehrerinnen ist ein wichtiger Schritt in diese Richtung gegangen worden.

Diese Identifikations- und Vorbildfunktion von PädagogInnen sowie das ihnen zuerkannte Fachwissen mag sicherlich manche Eltern bei schwierigen Erziehungsfragen dazu bewogen haben, sich an deren Verhalten zu orientieren. Wenn mir dieser Sachverhalt als Sozialpädagogin auch sehr schmeichelt, der vielleicht vorschnell entgegengebrachte Vertrauensvorschuss und ExpertInnenbonus hat dann Nachteile, wenn er, gewollt oder ungewollt, Ansichten und Denkmuster manipuliert. Meine Studienkollegin Juliana berichtete mir von Esma A., einer Klientin, deren türkische Mutter, Frau Hatice A. eine eher liberale Einstellung zu den von Natur aus tizianroten Haaren ihrer elfjährigen Tochter hatte.

Eines Tages bestand sie jedoch plötzlich darauf, dass die Jugendliche ihre Haarpracht unter einem Tuch verbarg. Nach den Gründen des plötzlichen Sinneswandels befragt, vertraute Frau A. meiner Kollegin, die als Familienhelferin bei A. tätig war, an, dass die neue Klassenlehrerin der frisch gebackenen Gymnasiastin Esma ebenfalls türkischer Herkunft war und Kopftuch trug. Nun war Frau A. um den guten Ruf der Familie besorgt und vor allem darum, ihren Eifer unter Beweis zu stellen, ihre Kinder zu gottesfürchtigen, frommen Mitgliedern der Umma zu erziehen. Die Reaktion der Klientin A. zeigt, dass es sich bei der Akzeptanz des Kopftuches gerade nicht um eine Freiheitssache handelt.

Die im letzten halben Jahr veröffentlichten Pressefotos der türkischen Politikergattinnen Gül und Erdogan, die sich demonstrativ mit Hijab an der Seite ihres Ehemannes fotografieren ließen, üben einen ähnlichen Druck aus wie das Vorbild der eben erwähnten Pädagogin. Die Bilder sollen das neue Image der modernen türkischen Muslima näherbringen, die genauso emanzipiert wie streng religiös konservativ ihr Leben in die eigenen Hände nimmt. Wenn die First Lady des ehemals betont laizitären Staates Türkei, Hayrünnisa Gül das ‘Schamtuch‘ nicht nur privat trägt, wenn sie das Haus verlässt, sondern auch bei Staatsbesuchen im Ausland und anderen offiziellen Anlässen, bricht sie bewusst mit ca. 80 Jahren säkularer Tradition.

Das ist ein überdeutliches Signal an die karrierebewussten TürkInnen im In- und Ausland, wie (Ehe-)Frauen künftig in der Öffentlichkeit aufzutreten haben. Das ist Wasser auf die Mühlen der religiösen Hardliner, nach Bundesinnenminister Schäuble (2007) ca. 40% der hier lebenden Muslime. Die werden sich in ihrer fundamentalistischen Lebensführung bestätigt fühlen und die fromme Kleiderordnung, die sie in ihrem engen sozialen Umfeld längst durchgesetzt haben, noch konsequenter zu überwachen und auszubreiten versuchen. Zumindest für TürkInnen gibt es keine Ausrede mehr, sogar die ‘Landesmutter‘ wirbt offensiv für die schariakompatible Verschleierung von Frauen. Auffällig dabei der betont emanzipierte, selbstbestimmte Eindruck.

Trotz der islamischen Renaissance nach 1979 gibt es in Europa und in der BRD gläubige Muslime, die sich nicht nur als ‘Ramadan-Muslime‘ der Umma zugehörig fühlen, sondern die fundamentalistischen Kleidungsvorschriften ablehnen oder die in dieser Frage noch unentschlossen sind. Wo bleiben deren Freiheitsrechte? Wo bleibt die negative Religionsfreiheit für AtheistInnen KonvertitInnen, ApostatInnen und ‘Ungläubige‘, die in unserem Land dieselben Grundrechte genießen und nicht totgeschlagen werden dürfen? Die Freiheit auf die du dich berufst, liebe Ebru, ist ein demokratisches Grundrecht, dass immer die Freiheit der anderen mit einschließt und sich eben nicht darin erschöpft, den Koran und die Sunna zu leben (Necla Kelek).

Muslimas, die behaupten, ohne Kopftuch würden sie sich nackt fühlen, geht es nicht alleine um Schutz. Sie unterteilen ihre Geschlechtsgenossinnen in die Gruppe der Ehrenhaften und die der Unreinen, egal ob die Betroffenen muslimisch sind oder gar ’Ungläubige’. Das Kopftuch ist somit Symbol für die Spaltung Menschheit in sittsam Tugendhafte sowie in verachtenswerte Sünderinnen. Der soziale Druck auf alle Mädchen und Frauen steigt proportional mit der Anzahl der Kopftücher im Straßenbild. Es gibt Stadtzentren, in denen Altbürgerinnen mit offenen Haaren vor die Füße gespuckt wird, sie werden zur Seite abgedrängt, ihnen wird der Weg abgeschnitten, sie werden absichtlich überhört, man sieht bewusst an ihnen vorbei.

Sollte es tatsächlich eine Muslimin wagen, ihre Haare nicht schamhaft zu bedecken, wird zunächst die Kernfamilie, dann die Sippe und schließlich die Community vorerst mit Hilfe von dringenden Ermahnungen und dem Erwecken von Schuldgefühlen versuchen, die Abweichlerin wieder auf den rechten, Allah wohlgefälligen Weg zu bringen. Gelingt das nicht, folgen wüste Beleidigungen, üble Nachrede, Ausschließen aus dem Freundeskreis, Schläge, Verweigern von intimen Zärtlichkeiten bis hin zum Mord aus falsch verstandener Ehre. Nahezu niemand wagt es daher, sich aus den Fesseln der sakralen Systeme Scharia, Koran und Sunna zu befreien, wer darüber redet oder schreibt, beschmutzt in den Augen der Fundamentalisten die Ehre des Clans, beleidigt die Umma und begeht Verrat an Allah.

Mit dem Kopftuch bedeckt man eben nicht nur die Haare, um als Frau erkannt zu werden, mit dem Tragen des Türban unterwirft man sich den nicht interpretierbaren Gesetzen des Islams. Der Hijab ist nicht nur ein unschuldiges Stück Stoff unter dem man die Haare versteckt, er ist eine Art Vertrag zwischen der Trägerin und der Umma, den sie mit dem ersten Binden des Tuches quasi unterschreibt und anerkennt. Sie bejaht mit der Verschleierung die für orthodox denkende Muslime wörtlich umzusetzenden Vorschriften aus Koran, Sunna und Scharia. In der kulturellen Moderne jedoch Frauen grundsätzlich für unrein und minderwertig zu halten und das Ganze als Ausdruck von Selbstbestimmung und individueller Freiheit zu werten ist grotesk und inakzeptabel.

Wenn ich auch niemanden zu seinem Glück zwingen möchte und Meinungsfreiheit ein von mir sehr geachtetes Menschenrecht ist, meine Toleranz endet an dem Punkt, wo von der Verfassung der BRD garantierte Grundrechte missachtet werden, besonders wenn die Gefahr besteht, dass Rechte von Frauen oder Kindern bedroht oder verletzt werden. Die Kairoer Erklärung der Menschenrechte und die Arabische Charta der Menschenrechte mit Scharia und Koran als Fundament, prägen in Theokratien Gesellschaft und Rechtsprechung, im demokratischen Europa gelten sie nicht.

Verachtung von Andersgläubigen, Verbot der Apostasie bei Todesdrohung, Diskriminierung von Frauen, Gewalt in der Erziehung, körperliche Züchtigung in der Ehe, Zwangsverheiratung, Teenagerschwangerschaften, Mord aus falsch verstandener Ehre gehören für islamische Fundamentalisten zum Lebensalltag wie das ‘Schamtuch‘ für Frauen. Du, liebe Ebru, magst diese ‘Software‘ als persönliche Art sehen deinen Glauben zu leben, ‘Freiheitssache‘ ist der Schleier schon deswegen nicht, weil er für eine Lebensführung steht, die Freiheiten anderer beschneidet. Ich halte es da eher mit Ralph Giordano, der anlässlich einer Podiumsdiskussion sagte: „Wenn das offene Haar der Frauen Begehrlichkeiten bei den Männern weckt, wäre es besser, den Männern Handschellen anzulegen als den Frauen das Kopftuch“.

Ümmühan Karagözlü